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Sport: Training für den Kopf

Jürgen Klinsmann will einen Psychologen fürs Nationalteam – in anderen Sportarten ist das längst üblich

Berlin - Ulrich Kuhl hat am vorigen Freitag zu Hause in Essen vor dem Fernseher gesessen, und Kuhl hatte ein gutes Gefühl. Bei den Olympischen Spielen trat die Speerwerferin Steffi Nerius zu ihrem letzten Versuch an. Nerius war im Durchgang zuvor um einen Zentimeter von einem Medaillenrang verdrängt worden. Eine unangenehme Situation, und doch war sich Kuhl ziemlich sicher, dass der letzte Wurf Nerius eine Medaille bringen würde. Nicht nur, weil die Speerwerferin auf ihn total ruhig und entschlossen wirkte, sondern auch, weil er sich ungefähr ausmalen konnte, was in diesem Moment im Kopf von Nerius passierte. Du kannst noch mehr, habe sie gedacht, und nicht: Oh Gott, nur noch ein Versuch. „Das können Sie trainieren“, sagt Kuhl. Steffi Nerius, die mit ihrem letzten Versuch in Athen Silber holte, trainiert das mit dem Sportpsychologen Ulrich Kuhl.

Seit fast 25 Jahren arbeitet Kuhl mit Sportlern zusammen, und doch gilt die Tätigkeit von Sportpsychologen immer noch als einigermaßen exotisch. Auch Jürgen Klinsmann, der Trainer der Fußball- Nationalelf, hat inzwischen angekündigt, einen Psychologen in sein Trainerteam aufzunehmen. „Der mentale Bereich wird immer wichtiger“, sagt er. Doch Klinsmann selbst fragt sich: „Inwieweit passt das ins Umfeld des Fußballs?“

Genau das scheint ein Problem zu sein. In keiner anderen Sportart ist die Skepsis gegen Psychologen so groß wie im Fußball. „Da gibt es immer noch die Vorbehalte, dass wir irgendwelche Leute auf die Couch legen, um Psychoanalyse mit ihnen zu machen“, sagt Werner Mickler, der für die sportpsychologische Ausbildung beim Trainerlehrgang des DFB zuständig ist. Dabei hat er auch Klinsmann kennen gelernt. „Er ist jemand, der sich für viele Dinge interessiert und sehr offen ist für Neues“, sagt Mickler. Es gibt also Hoffnung für die Sportpsychologie.

Neu ist das alles gar nicht. Ulrich Kuhl hat schon 1981 mit dem damaligen Zweitligisten Eintracht Trier zusammengearbeitet. Er wurde engagiert, weil die Mannschaft offensichtlich ihre Stärke nicht ausschöpfen konnte. Als Ursache erkannte Kuhl, dass die Spieler Angst hatten, Fehler zu machen, und daher übervorsichtig spielten. Der Sportpsychologe empfahl dem Trainer, risikoreicher spielen zu lassen. Das hört sich banal an, in der Praxis aber durfte kein Spieler ausgewechselt werden, nur weil er einen Fehler gemacht hatte. Und es war ausdrücklich untersagt, auf missglückte Aktionen eines Mitspielers mit negativen Äußerungen zu reagieren. Als Kuhl in Trier anfing, war die Mannschaft 14., zwischenzeitlich, nach acht Siegen aus zehn Spielen, lag sie auf Platz drei. „Auch mit der Unterstützung eines Psychologen kann ein Trainer aus schlechten Spielern keine gute Mannschaft machen“, sagt Kuhl. Aber mit Hilfe eines Psychologen können Sportler ihr Leistungspotenzial besser ausschöpfen.

Bernhard Peters, Trainer der Hockey- Nationalmannschaft, sieht auf diesem Gebiet „das größte Potenzial, um noch Fortschritte zu erzielen“. Seit 1990 arbeitet Peters mit Sportpsychologen zusammen – auch weil er seine „eigenen Unzulänglichkeiten in diesem Bereich“ schon früh erkannt hat. Eine solche Einsicht ist unter Trainern eher selten. Viele halten sich für ausreichend psychologisch geschult, und Motivation ist ohnehin Chefsache.

Dabei geht es gar nicht um Motivation. „Es geht um Strategien“, sagt Ulrich Kuhl. Die Hockey-Nationalmannschaft zum Beispiel ist bei den Olympischen Spielen vor vier Jahren in der Vorrunde gescheitert. Nicht weil sie zu schlecht war, sondern weil sie im entscheidenden Spiel auf ein spätes Gegentor gedanklich nicht mehr reagieren konnte. Der Sportpsychologe Lothar Linz hat diese Situation seitdem etliche Male mit dem Team durchgespielt, „um Handlungsschemata aufzubauen“, wie er sagt. Wenn die Spieler wieder in eine solche Drucksituation geraten, weiß jeder, was zu tun ist. „Das haben wir miteinander ausgemacht“, sagt Linz.

Der Sportpsychologe gehört zu Peters’ Trainerteam wie der Torwarttrainer, der Athletiktrainer und der Leistungsdiagnostiker. „Er ist eigentlich immer dabei“, sagt Peters. „Das ist nichts Extravagantes.“ Linz nimmt an Teamsitzungen teil, filmt auch die Halbzeitbesprechungen und erklärt dem Bundestrainer, „warum die dir da und da nicht zugehört haben“. Das Eigencoaching sei eine weitere Facette, sagt Peters. „Die Akzeptanz muss vom Cheftrainer ausgehen.“ Linz wiederum findet es wichtig, dass die Spieler den realen Nutzen seiner Arbeit erkennen.

Wo das nicht der Fall ist, wird es schwierig. Die Hockeyfrauen zum Beispiel haben die Zusammenarbeit mit Psychologen immer als eher belastend empfunden. „Ich weiß gar nicht, wie viele wir schon getestet haben“, sagt Nationalspielerin Natascha Keller. Ohne Erfolg. In Athen wurden die Frauen ohne Psychologe Olympiasieger, die Männer holten mit Psychologe Bronze. „Natürlich habe ich einen Anteil am Erfolg“, sagt Linz, „aber nicht in dem Maße, wie es immer dargestellt wird.“ Bundestrainer Peters erlebt das häufig im Gespräch mit Journalisten. Zehn Fachleute gehören zu seinem Trainerstab, doch nur, wenn er den Sportpsychologen erwähnt, erregt er noch Aufsehen. „Ach“, heißt es dann, „Sie arbeiten mit einem Sportpsychologen zusammen?“

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