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Trauern um das Deutsche WM-Aus: Weinen will gelernt sein

Das Ausscheiden der deutschen Mannschaft bei der WM kann eine existentielle Lektion für alle Gelegenheitsfans sein. Denn Leiden mit ihrem Team ist für sie eine neue Erfahrung.

Fan-Sein: Was ist das? Es ist alles und nichts, wie Mensch-Sein. Es gibt solche und solche: Der eine (Bielefeld-Fan) ist chronisch betrübt, dem anderen (Bayern-Fan) platzt dauernd die Hose vor Glück, der Dritte (Köln-Fan) kann beides gleichzeitig empfinden. Fan-Sein ist Leben, man hört damit nicht einfach auf, es prägt, es modelliert, manchmal zur Heldenstatue, manchmal zum nassen Sack.

Wer über viele Jahre Fan eines Vereins war, der ist durch mehr Wechselbäder gegangen als alle Kurpatienten dieser Welt. Selbst Bayern-Fans sind durch Täler der Tränen gekrochen, selbst Bielefeld-Fans waren mal für einen Tag Spitzenreiter, sie stürzten wieder ab und kamen wieder hoch. Die Angst, die Freude, der Zorn, die Depression, die Heilserwartung, die Hoffnung, die zuletzt, und der Stolz, der nie stirbt – mindestens vierunddreißig Mal im Jahr jagt ein Verein seine Fans durch diese Aggregatzustände.

Die Nationalmannschaft indes hat dafür weit weniger Gelegenheit. Ein paar Freundschaftsspiele, lose übers Jahr verteilt, Quali-Kicks in Aserbaidschan – das bringt die wenigsten in Wallung. Doch alle zwei Jahre, bei den großen Turnieren, geht ein Ruck durch Deutschland, wie ihn sich Roman Herzog selbst in seinen kühnsten Träumen nicht hätte ausmalen können. Schland-Rot-Gold! Die Nation gerät ins Fußballfieber. Und fiebrig sehen sie tatsächlich aus, die Bemalten, Verkleideten, die mit der Tröte im Gesicht. Sie versammeln sich auf Plätzen, starren auf Leinwände, kreischen, jubeln, umarmen einander, tauchen in Achselhöhlen wildfremder Menschen und feiern dort bis zum Sonnenaufgang.

Modefans nennt man sie, denn Mode ist ein Phänomen, das wiederkehrt, ohne von langer Dauer zu sein. Höchstens vier Wochen haben sie Zeit, ihre Gefühle rauszulassen, die nie so ausgeprägt sein können wie die eines Klubfans, der sich seit Jahren in die Ungewitter des Fußballs stellt. So tief, wie er ist, können sie nicht mal fallen.

Und mit einer Mischung aus Hybris und Abscheu schaut der Klubfan auf die Modefans, auf ihre Garderobe und Staffage, die so neu sind wie ihre Begeisterung, auf ihre Emotionen, die in seinen Augen eine Karikatur seiner eigenen sind. Er ist beleidigt, dass ihnen zufällt, was er sich so lang und hart hat erarbeiten müssen. Er misstraut ihnen. Und nun empfindet er Schadenfreude: Nach dem Aus gegen Spanien traf auch sie die Keule der Trauer. Sie kannten das Gefühl nicht, sie kannten nur Vierzunulls, das Serbien-Spiel war für sie eine unnötige Hänselei des Schicksals. Doch als Puyol einköpfte, fiel das 0:1 auch in ihren zarten Seelchen und verhärtete sich dort zum existentiellen Rückstand. Sie weinten ihre Hula-Kränze nass.

Der Klubfan, der im Laufe seines Daseins schon Hektoliter Rotz in seine Kutte gewischt hat, grient. Das soll Trauer sein? Da sind ja Veronika Ferres’ Tränen echter, wenn irgendwo ein Wal verendet.

Doch auch Weinen muss man lernen dürfen. Es kann der erste Schritt sein. Vom Modefan-Sein zum Fan-Sein. Vom Modemensch-Sein zum Mensch-Sein.

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