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Sport: Traum vom Oberhammer

Für den Berliner Turner Brian Gladow ist sein Start bei der Heim-EM ein Erfolg nach langer Leidenszeit

Das Radio steht an der Wand, genau in der Mitte der Turnhalle. Irgendein Sender dudelt Popmusik, die Lautstärke ist angenehm. Die Musik lockert die nüchterne Atmosphäre in der Halle des Bundesleistungszentrums Kienbaum auf, aber sie ist leise genug, dass man Jens Milbradt am Barren gut versteht, etwa acht Meter entfernt von den Boxen. Milbradt stützt die Beine von Brian Gladow ab. Gladow hängt im Handstand an den Holmen, die Endposition einer Felge mit halber Drehung. „War doch gut“, brummt Milbradt, der Trainer des Kunstturners Brian Gladow vom SC Berlin, Deutscher Vizemeister im Mehrkampf von 2010.

Ein Patzer wäre auch nicht so schlimm gewesen. Die Felge mit halber Drehung ist ein neues Teil, Gladow wird es bei der EM in Berlin noch nicht zeigen, es soll in die Olympiaübung für 2012 integriert werden. Gladow kann entspannt für Olympia trainieren, er startet bei der EM nächste Woche in der Schmeling-Halle. Das ist für Gladow die wichtigste Nachricht. „So nahe an der Nationalmannschaft wie jetzt war ich noch nie“, sagt er.

Dass er 23 Jahre alt werden musste für so einen Satz, das ist die Geschichte des Brian Gladow. Es ist die Geschichte eines großen Talents, das sich mühsam wieder nach oben kämpfen musste. Gladow sitzt in der Cafeteria in Kienbaum und sagt: „Ich hätte mir kaum vorstellen können, wie schwer es ist, zurückzukommen.“

Er war 2007 Ersatzmann im WM-Kader, 2008 hatte er Hoffnungen auf einen Olympiaeinsatz. Aber dann verletzte er sich an der linken Schulter, für einen Turner eine brutale Verletzung. Zwölf Wochen Sportverbot ordnete sein Arzt an. Nach so einer OP lautet die entscheidende Frage: Wie tief ist der Absturz? Wie langfristig sind die Folgen? Nach so einer Verletzung fällt man auf ein Niveau, bei dem man sich wie ein halber Anfänger fühlt. Und man muss mühsam den alten Stand erreichen, während die anderen neue Elemente einstudieren.

Bei Gladow dauerte es zwei Jahre. So lange brauchte er, bis er annähernd wieder sein altes Niveau hatte. Es gibt Posingfotos von Gladow aus dieser Zeit, „da erkennt man nicht, dass ich Turner war. Von einem großen Bizeps war nichts zu sehen.“ Der Gedanke ans Aufhören schwang immer wieder mit.

Deshalb sind seine kurzfristigen Ziele bescheiden geworden. „Ich möchte bei der EM ins Reckfinale kommen“, sagt Gladow. Er leidet ja immer noch an den Folgen der Verletzung. An den Ringen zum Beispiel turnt er nicht mehr so geschmeidig wie früher. Früher hatte er als Abgang einen Doppelsalto vorwärts gebückt. Ein D-Teil. Mit einem guten Abgang holt man an den Ringen die Punkte. Aber Gladow beherrscht derzeit nur ein B-Teil, „damit verliere ich drei Zehntelpunkte“.

Dann schmerzte Anfang des Jahres auch noch die rechte Schulter. Gladow schluckte Schmerztabletten, für eine Regeneration hatte er einfach keine Zeit. Es war ein riskantes Spiel. „Entweder oder.“ Entweder die Schulter hält, oder der EM-Start wäre geplatzt.

Aber dieser Start durfte einfach nicht platzen, nicht bei der EM in Berlin, nicht bei dem Höhepunkt, bei dem seine Familie, seine Freundin und seine Freunde auf der Tribüne sitzen. Die EM in Berlin ist ja auch die Chance, dass ein paar Strahlen des Scheinwerferlichts Brian Gladow einfangen. Der Reckspezialist Gladow möchte einfach auch mal ein bisschen von der Öffentlichkeit beachtet werden. „Wenn ich ins Reckfinale komme, dann redet man über Brian Gladow, den man vorher nicht kannte“, sagt der Sportsoldat. „Das wäre dann der Oberhammer.“

Man darf das nicht als Ego-Trip missverstehen. Gladow ist ein Kumpel von Fabian Hambüchen, dem Star des deutschen Turnens, der wegen einer Verletzung nicht starten kann. Gladow respektiert Hambüchen für dessen Leistungen, man spürt zumindest in der Cafeteria keinen Neid auf den Erfolgreicheren. Aber Hambüchens Verletzung ermöglicht den anderen deutschen Turnern, aus dem Schatten des Stars zu treten. Und für einen wie Gladow ist diese Chance als Lokalmatador viel größer als sonst.

Bei den Deutschen Meisterschaften 2010, auch in der Max-Schmeling-Halle, hatte er am Reck bewusst aufgeschaut. Er wusste, wer direkt vor ihm saß: „meine Eltern“. Er hatte ja persönlich am Tag zuvor Namenszettel auf die Sitzplätze geklebt, damit Vater und Mutter genau diese Plätze bekamen. Aber als er dann kurz darauf selber auf der Tribüne saß und den Frauen zuschaute, da beachtete ihn schon wieder kaum jemand. Und als das Liga-Finale in Berlin stattfand, nur ein paar Wochen später, „da erkannte mich überhaupt keiner mehr. „Das war ein bisschen enttäuschend“, sagt Gladow. Dafür fragten ihn im vergangenen Jahr in Cottbus bei einem Wettkampf mal 40 Kinder begeistert aus und verlangten eifrig Autogramme.

Sie erhielten die offiziellen Gladow-Autogrammkarten, die der Deutsche Turner-Bund (DTB) vor einigen Jahren hatte produzieren lassen. Aber die Autogramme waren auch ein kleiner, unbeabsichtigter Hinweis darauf, das Gladow sich im eigenen Verband erstmal einen Stellenwert erkämpfen musste. Auf den Karten wurden Boden und Barren als seine Spezialgeräte angegeben. Dabei war schon zum Zeitpunkt des Drucks das Reck sein stärkstes Gerät.

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