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Turkiye

© dpa

Türkei: Die Aufersteher

Die Türkei hat angeblich nur noch 14 einsatzfähige Spieler, aber das sollte man nicht so ernst nehmen. Viel bedeutsamer ist der neue Teamgeist und der Glaube daran, immer wieder zurückschlagen zu können.

Am Montag hat Nihat Kahveci sich von seinen Kollegen der türkischen Nationalmannschaft verabschiedet und ist heim nach Spanien geflogen. Die für gestern geplante Leistenoperation hat der Stürmer vom FC Villarreal kurzfristig abgesagt, mit der Begründung, er wolle sich das Halbfinale gegen Deutschland nicht vom Krankenbett aus anschauen. Vielleicht aber steht er heute Abend auch im roten Leibchen auf dem Rasen des St.-Jakob-Parks zu Basel, weil das mit der Leiste doch nicht so schlimm ist. Die Deutschen geben nicht viel auf die türkischen Krankenberichte und die Klagen, dass nur noch 14 Spieler einsatzbereit seien und der Ersatztorhüter vielleicht als Stürmer eingewechselt werde. „Das machen die ein bisschen absichtlich, das gehört zum Understatement“, sagt der deutsche Chefscout Urs Siegenthaler. „Ich bin überzeugt, es spielen außer den Gesperrten fast alle mit.“

Zur Einstimmung auf das Halbfinale in Basel quartierten sich die Türken im knapp 700 Kilometer entfernten Wien ein, im Franz-Horr-Stadion im Arbeiterbezirk Favoriten mit seinen vielen türkischstämmigen Bewohnern. Das Abschlusstraining hielt Trainer Fatih Terim unter Ausschluss der Öffentlichkeit ab. Muss ja keiner so genau sehen, wie viele Spieler wie schwer verletzt sind. Vorsichtshalber wollten die türkischen Reporter von Semih Sentürk schon mal wissen, ob er denn aus Personalnot spielen oder nicht vielleicht doch wieder den Platz einnehmen werde, von dem aus er bisher so wichtig für die Türken war. Es war dies der Platz auf der Ersatzbank, auf der angeblich so viel Platz ist.

Zweimal ist Semih Sentürk bei dieser Europameisterschaft eingewechselt worden, und beide Male hat er ein Tor geschossen. Das erste im Dauerregen von Basel, als die Türken 0:1 gegen die Schweiz zurücklagen und vor dem frühen Aus bei dieser Europameisterschaft standen. Sentürk kam zur zweiten Halbzeit, köpfte den Ausgleich, und die Türken gewannen noch 2:1. Richtig berühmt wurde er im Viertelfinale gegen Kroatien, als ihm in der Nachspielzeit der Verlängerung unverhofft der Ball im Strafraum auf den Fuß fiel. Sentürk drosch ihn zum 1:1 ins Tor und traf später noch ein zweites Mal im Elfmeterschießen. Sentürk sagt, er werde dieses Tor sein Leben lang nicht vergessen, aber ein Leben als ewiger Joker wolle er natürlich nicht führen. „Ich kann meine Tore auch von Anfang an schießen“, aber das sei natürlich Sache des Trainers. „Fatih Terim wird die richtige Taktik für uns wählen, er ist der beste Trainer, unter dem ich je gearbeitet habe.“

Zur besseren Einordnung dieses Kompliments gehört der Hinweis, dass Sentürk für Fenerbahce Istanbul spielt und Terims Heimat die lokale Konkurrenz Galatasaray ist. Beide Klubs sind einander seit Jahrzehnten in herzlicher Feindschaft verbunden. Für die Nationalspieler ist Terim „wie ein Vater“ (Sentürk), „er hat ein Riesenherz und spricht immer Klartext“ (Hamit Altintop). Terim behauptet von sich selbst: „Ich bin ein Mann, der die richtigen Entscheidungen zum richtigen Zeitpunkt trifft.“

In der Heimat nennen sie ihn „Imperator“, und daraus spricht nicht allein Zuneigung. Als er vor der EM bewährte und beliebte Kräfte wie Hakan Sükür, Yildiray Bastürk und Altintops Zwillingsbruder Halil aussortierte, überschwemmten die türkischen Fans den Verband mit Tausenden von Protestmails, und Bastürk stellte klar, dass er unter Terim nie wieder für die Nationalmannschaft spielen werde. Nach der Niederlage im ersten Spiel gegen Portugal forderten die angriffslustigen Zeitungen schon eine Abberufung des Trainers. „Wir wurden zum Opfer der unbegreiflichen Fehler von Fatih Terim“, kommentierte „Hürriyet“, das türkische Pendant zu „Bild“. Seitdem ist einiges passiert. Jetzt rühmen die Kritiker Terims taktisches Geschick und seine Motivationskunst, mit der er eine schon so oft am Boden liegende Mannschaft aufgerichtet und zu kaum vorstellbaren Großtaten angestachelt habe. „Wir sind nie zufrieden mit dem, was wir erreicht haben“, sagt Verteidiger Gökhan Zan. „Deutschland ist für uns der letzte Schritt auf dem Weg ins Finale, und wir werden auch dieses Hindernis aus dem Weg räumen.“

Und das mit den vielen Verletzten sei überhaupt kein Problem. „Wer auf dem Platz steht, wird alles geben und noch mehr“, verspricht Zan. „Niemand wird sich schonen. Selbst wenn wir dann im Endspiel vielleicht Mühe haben werden, eine komplette Elf zusammenzubekommen.“

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