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Sport: Türkei im EM-Viertelfinale: Hakan Sükür lässt die Türken jubeln - Trauer bei EM-Gastgeber Belgien

Von der breiten Stirn liefen kleine Bächlein Richtung Wangen, ein paarmal schaffte es der Schweiß sogar auf die Gläser der großrahmigen Goldrand-Brille. Doch nicht nur das Gesicht des sonst so freundlichen Monsieur Waseige war gezeichnet von der Hitze und der Niederlage.

Von der breiten Stirn liefen kleine Bächlein Richtung Wangen, ein paarmal schaffte es der Schweiß sogar auf die Gläser der großrahmigen Goldrand-Brille. Doch nicht nur das Gesicht des sonst so freundlichen Monsieur Waseige war gezeichnet von der Hitze und der Niederlage. Der belgische Trainer sah aus, als ob er die letzte halbe Stunde selbst mitgekickt hätte. Unter den fast tropischen Temperaturen und den fürs Gastland immer widrigeren Umständen hatten auch Leute schlapp gemacht, die 20 oder fast 40 Jahre jünger waren als Robert Waseige. Schiedsrichter Kim Milton Nielsen musste nach 38 Minuten von Sportkamerad Günter Benkö (Österreich) abgelöst werden: Muskelfaserriß im Adduktorenbereich hieß die erste Diagnose. Und der Schalker Emile Mpenza fühlte sich so kaputt, als habe er an einem Abend zwei Spiele absolviert.

Der 60-jährige Robert Waseige wird noch eine Weile leiden darunter, dass wir "die Öffentlichkeit, die so viele Hoffnungen in diese Mannschaft gesetzt hat, enttäuscht haben". Doch auch im tristesten Moment seiner sportlichen Vita blieb Waseige Gentleman. Kein Vorwurf. Keine Suche nach einem Sündenbock, obwohl sich Torwart de Wilde für diese Rolle längst freiwillig gemeldet hatte. "Ich habe in drei Spielen zwei fatale Fehler gemacht. Ich habe die EM auf dem Gewissen." Doch warum ihm so etwas passiere, "wo ich doch hundertprozentig in Form war", das konnte der Tormann vom RSC Anderlecht nicht begreifen. Und für dessen Vorgesetzten war auch nach ein paar Stunden Abstand zum Geschehen nicht nachvollziehbar, "warum wir ein Spiel verlieren, in dem wir in den ersten 30 Minuten die einzige Mannschaft auf dem Platz gewesen sind."

In seinem Inneren aber wird der weise Wallone die Antwort gewusst haben. Die "roten Teufel" gehören trotz aller Achtungserfolge in der Vorbereitungsphase nicht zur ersten Garnitur in Europa. Als es ernst wurde, spielten ihre Besten so, wie das Leute können, die nie ein Top-Klub aus dem Liga-Trott von Antwerpen, Brügge, Genk, Mouscron oder dem nicht viel besseren Niveau der holländischen Ehrendivision weggekauft hat. Auch Schalke 04, wo mit Marc Wilmots und Emile Mpenza die zwei Aushängeschilder des belgischen Fußballs beschäftigt sind, gehört zurzeit nicht zu jenen Adressen, wo einer international zum Star reift. Er persönlich habe auf seinem höchsten Niveau gespielt während der EM, hat Wilmots gesagt. Und das große Torjäger-Talent Mpenza konnte sehen, dass er noch lernen muss für die Kategorie A.

Und die Türken? Manche hatten schon gelästert über die Tiergattung, in welche Hakan Sükür, der "Bulle vom Bosporus", bei dieser EM einsortiert gehöre: Papiertiger, Stofflöwe, Gummibärchen. Doch als der Ball in der Nachspielzeit des ersten Abschnitts wie eine Rauchkerze in den belgischen Strafraum fiel und hoch auftickte, da ahnten nicht nur die Türken, dass dies der Moment war, in dem Hakan ins Turnier springen würde: mit dem Kopf einen halben Meter höher als Torwart de Wilde mit den Armen. Und Suats Solo in der 70. Minute schloss der lange Torjäger so souverän ab zum 0:2, wie das auf den Videos von Galatasaray Istanbul eine Europapokal-Saison lang serienmäßig zu bewundern war.

Nach Sükürs erstem Schlag stand der belgische Teil der Kulisse im König Baudouin-Stadion unter Schock. Endgültig aufgewacht aber ist Hakan Sükür eine Viertelstunde nach der Partie. "Ich glaube wirklich, dass wir eine sehr gute Chance haben, das Halbfinale zu erreichen", sagte er. Und weil niemand Sükür widersprach, brachte der seinen Satz zu Ende: " ... und warum nicht auch das Finale?"

Dabei hatte der Mannschaft in diesem Spiel die Revolution gedroht. Wütend hatte Tugay seine Schienbeinschützer vor Trainer Denizili hingeworfen, bevor er nach seiner frühen Auswechslung (35.) in der Kabine verschwand. Schnell und unbürokratisch klärten die Türken diesen Fall. Der Mittelfeldspieler flog tags darauf aus dem Kader, obwohl sich die anderen Spieler bei Nationaltrainer Mustafa Denizli noch für ihn stark gemacht hatten. Denizli blieb hart. Tugay, der bei den Glasgow Rangers spielt, soll nun angeblich Ferien in der südtürkischen Stadt Antalya machen.

Der erste türkische Erfolg bei der zweiten EM-Teilnahme übertüncht solche kleinen Misslichkeiten ohnehin. In Istanbuls Mülltonnen sind am Montagabend mehr Fischköpfe und überreife Früchte verschwunden als sonst. Lauter Gegenstände, die Spuren hinterlassen hätten auf den Ausgehanzügen der Spieler, falls die am Dienstag in der Türkei gelandet wären. Der böse Empfang ist abgeblasen. Stattdessen haben sie von Belgien die EM-Party übernommen.

Der K.o-Modus biete eine riesengroße Chance, sagt Korkut Tayfun, der vor fünf Jahren noch bei den Amateuren der Stuttgarter Kickers gespielt hat. "Wieso sollen wir nicht den Lauf erwischen, den Galatasaray im Uefa-Pokal gehabt hat?" Ja, wieso nicht?

Martin Hägele

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