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Turn-Weltmeisterschaft: Oksana Chusovitina überlistet die Turnwelt

Sie hat Medaillen geholt, auch für Deutschland. Oksana Chusovitina ist doppelt so alt wie ihre Konkurrentinnen und hat bei der Turn-WM das Finale erreicht. Wie macht sie das?

Von David Ensikat

Sie hat, so sagt sie, alles, was eine Frau zum Leben brauche: einen Mann, einen Sohn – Familie. Sie führt, sagt sie, ein ganz normales Leben.

Ihr Mann und ihr Sohn leben in Taschkent, gut 5000 Kilometer entfernt von Antwerpen, wo sie sich im Augenblick aufhält. Vor zwei Wochen war sie in Tokio, drei Wochen davor in Houston, Texas. Überall, in Houston, Tokio, Antwerpen führt sie ihr ganz normales Leben, so wie sie es kennt seit 30 Jahren. Sie fliegt durch die Lüfte der Turnhallen, dreht sich um sämtliche Achsen, um die ein Mensch sich nur drehen kann, landet immer wieder auf ihren kleinen Füßen, manchmal auch nicht, aber das kommt selten vor. Es sehen ihr dabei Mädchen zu, die jeden Tag doppelt so lange trainieren wie sie, biegsame, starke Mädchen, voller Bewunderung für diese Frau. Sie könnte ihre Mutter sein, ist aber noch biegsamer, noch stärker. Sprünge, die die Mädchen nach fünf Anläufen nicht schaffen, schafft sie im ersten. Sprünge, die sie springt, werden die Mädchen in ihrem Leben nicht springen.

Klein, jungenhaft und schmal

Oksana Chusovitina ist wieder bei einer Weltmeisterschaft dabei, es ist ihre zehnte. Seit Montag gehen die besten Turner dieser Welt in Antwerpen ihrer gefährlichen Beschäftigung vor großem Publikum nach, sie dehnen ihre Bänder, stauchen ihre Wirbelsäulen, sie fliegen über Turnpferde und hoffen, dass sie nicht nur heil am Boden ankommen, sondern auch noch kerzengerade.

Bei ahnungslosen Zuschauern lösen die Turnerinnen merkwürdige Gefühle aus: Was sind das für zarte, kleine Wesen, die sich da ins Hohlkreuz werfen? Sollten Mädchen dieses Alters nicht pubertieren? Sollten sie nicht in die Schule gehen? Dann sehen die ahnungslosen Zuschauer Oksana Chusovitina, ebenso klein, jungenhaft und schmal wie alle anderen, aber doch sehr anders: viel sehniger, kein bisschen Speck zwischen Haut und Muskeln, die Gesichtszüge markant, erwachsen. Und sie hören über Lautsprecher, wie gleich nach dem schwierigen Namen ihr Alter erwähnt wird: 38 Jahre. Die Konkurrentinnen sind eher 16, die ältesten ein wenig über 20.

Wie ist das möglich?

In Rio, 2016, will sie dabei sein

Oksana Chusovitina zuckt mit den Schultern. „Warrrrum soll nicht meglich sein?“, sagt sie in ihrem lustigen russischen Akzent und strahlt. Nächste Frage bitte.

Das klingt nach einem schwierigen Gespräch. Aber das Gespräch ist gar nicht schwierig. Man muss nur diese Fragen nach dem Alter bleiben lassen, die bringen überhaupt nichts. Und man darf nicht ganz humorlos sein. Als sie sagt, sie würde noch gern bei den nächsten Olympischen Spielen mitmachen, 2016 in Rio, lächelt sie ein wenig, und man fragt lieber nach, ob das ein Witz war. „Nein, kein Witz!“, sagt sie und reißt ihre kleinen Augen so weit auf, dass sich eine Nachfrage empfiehlt. Vielleicht so: Wie alt sind sie dann, 2016?

„Achtzehn“, sagt sie, lehnt sich zurück und guckt, wie das ankommt. Also doch ein Witz. Dann kommt ein: „Pffft, 40, 41, ich weiß nicht. Aber ich will mitmachen, natürlich.“

Aus der usbekischen Heldin wurde eine Deutsche

1975 wurde sie in Buchara geboren, der Vater Bauer, die Mutter Köchin, beide kleine Menschen. „Die Kleinen sind für die Liebe da, die Großen für die Arbeit“, tröstete die Mutter ihre kleinen Kinder. Als Oksana acht war, nahm ihr Bruder sie zum Turntraining mit. Er hörte nach drei Wochen auf, sie blieb dabei. Ihr Talent wurde schnell bemerkt, sie wurde auserlesen, die Überlegenheit der Sowjetunion auf dem Gebiet des Sports unter Beweis zu stellen, verbrachte Monate in Trainingslagern, fern der Heimat. Bei ihrer ersten Weltmeisterschaft war sie 15 und holte zwei Goldmedaillen und einmal Silber. Sie trug die Haare lang, zum Zopf gebunden mit einer weißen Schleife, sie war eins dieser sowjetischen Wundermädchen, die halt die Medaillen holten.

Ihr Pensum in den Monaten zuvor: sechs Tage pro Woche Leistungssport, 7 bis 8.30 Uhr erstes Training, 10.30 bis 13.30 zweites, 16 bis 19 Uhr drittes, und wenn sie sich einmal gehen ließ oder das Gewicht nicht stimmte, ab 20 Uhr noch mal. Sonst 20 bis 22 Uhr Schule, aber vom Unterricht, so erinnert sie sich, hat keins der Mädchen noch viel mitbekommen.

Es gibt eine Briefmarke mit ihrem Bild

Die erste WM, auf der sie die sowjetische Überlegenheit demonstrierte, fand 1991 statt. Ein paar Monate später gab es die Sowjetunion nicht mehr. Das war das erste Mal, dass sie ans Aufhören dachte. Denn die entscheidende Frage in diesem Sportlerinnenleben scheint nicht zu sein: Schaffe ich das noch? Sondern: Für wen darf ich es schaffen?

Für die GUS durfte sie und dann für ihre Heimat, Usbekistan. Dort wurde sie zur Nationalheldin, es gibt eine Briefmarke mit ihrem Bild.

Aber dann wurde aus der usbekischen Heldin eine Deutsche. Sie besitzt seit 2006 die doppelte Staatsbürgerschaft. Das hatte viel mit ihrem Sohn zu tun, der Alisher heißt. 1999 kam er zur Welt, davor hatte sie schon ab und an in Deutschland trainiert. Für einen Kölner Sportverein trat sie in der Bundesliga an. Das war ihr großes Glück, als Alisher 2002 an Leukämie erkrankte. Eine Therapie in Usbekistan war unmöglich, der Junge kam in die Kölner Universitätsklinik. Ein großer Teil des Geldes für die Behandlung, 120 000 Euro, kam durch eine Spendensammlung ihrer deutschen Turnfreunde zusammen. Den Rest erturnte sie.

"Ohne Training wäre ich verrückt geworden"

Sie konnte Salti schlagen, während ihr Sohn im Krankenhaus lag?

„Das war die Rettung“, sagt sie. „Nicht nur für Alisher. Für mich! Ohne Training wäre ich verrückt geworden.“ Beim Turnen musste sie sich aufs Turnen konzentrieren.

Dass sie die deutsche Staatsbürgerschaft annahm, sagt sie, soll man als Dank verstehen für alles, was die Deutschen für ihren Sohn getan haben. Sie war jetzt hier krankenversichert, was wichtig für die weitere Behandlung war. Und die Deutschen profitierten sehr: Oksana Chusovitina trat bei Weltmeisterschaften und Olympia für Deutschland an und ersprang Titel und Ränge, zu denen Sportlerinnen aus der DDR einst imstande gewesen waren, aber bundesdeutsche nicht.

Sie trainiert gar nicht so viel

Was man der Bundesrepublik auf keinen Fall zum Vorwurf machen kann. Man ist hier eben der Meinung, dass Mädchen im schulpflichtigen Alter in die Schule müssen. Abgesehen von wenigen Ausnahmen ist aber das Damenturnen auf höchstem Niveau ein Mädchenturnen, man könnte auch von einer speziellen Form der Kinderarbeit sprechen. So etwas funktioniert im Westen nun einmal nicht. Deutsche Turnerinnen gehen zur Schule, studieren, und außerdem treiben sie noch Sport. Wenn es mal eine auf den vierten Platz bei Olympia schafft, kann man nur staunen. Oder es ist Chusovitina, bei der staunt man übers Alter und fragt sich, wie sie dieses Pensum schafft.

Was endlich eine Frage ist, auf die es eine leichte Antwort gibt: Sie trainiert gar nicht so viel. Zwei Stunden am Tag, wenn sie keine Lust hat, nur eine. Das würde bei den Mädchen niemals reichen.

Der Vorteil des Alters: Erfahrung

Wer heute ihr Alter nur als Bürde sieht, verkennt den einzig großen Vorteil des Alters, die Erfahrung. Alle Sprünge hat sie tausend Mal absolviert, sie trainiert längst nicht mehr, um zu lernen, sondern um ihr Niveau zu halten, ihre Kondition. Sie beherrscht den Tsukahara mit Doppelschraube, den außer ihr nur eine handvoll Turnerinnen auf der Welt hinkriegen (sie kann sich gar nicht vorstellen, ihn irgendwann zu verlernen). Aber zwei Trainingseinheiten täglich, wie die anderen in der Wettkampfvorbereitungsphase, würde sie nicht schaffen. Was ein Grund ist dafür, dass sie seit diesem Jahr nicht mehr für Deutschland antritt, sondern für Usbekistan.

Sie kann und will die Qualifizierungstortur nicht mehr durchmachen. Vor den großen Wettkämpfen gibt es viele kleine, die zu bestehen sind. Und es gibt Vorbereitungslehrgänge, bei denen die Anwesenheit zählt. Die Mädchen verehren Oksana Chusovitina, aber sie ist auch eine Konkurrentin. Die soll viel weniger tun als sie?

Einen Sponsor hat sie nicht mehr

Dazu kommt, dass sie nach Olympia in London müde war und glaubte, sie müsse ganz aufhören. Da hat sie sich mit den Deutschen geeinigt, dass sie aus der Mannschaft ausscheidet. Aber schon zwei Monate später fühlte sie sich wieder fit wie eh und je, und das heißt, in ihren Worten: „Wann ich kann trainieren, ich trainiere.“ Jetzt eben für Usbekistan.

Außerdem ist sie hin und wieder in Japan, um einen Tokioter Verein in der Turnliga zu verstärken; das bringt ein wenig Geld. Einen Sponsor hat sie nicht mehr – der Chemiekonzern Lanxess hatte sie jahrelang unterstützt.

Aber ist es nicht irgendwann einmal genug, die ganze Reiserei, hier trainieren, dort um Medaillen kämpfen? Wäre sie nicht lieber länger bei ihrem Sohn und ihrem Mann? „Es gibt doch Skype und Telefon“, sagt sie, „und immer, wenn ich keine Wettkämpfe habe, bin ich da.“ Dann eine Pause und ein kleines Lächeln. „Aber ich habe immer Wettkämpfe.“

Auf ihren Trainer hörte sie nicht - ein Glück

Sie liebe es, durch die Welt zu fliegen, so viele Länder, so viele Menschen. „Arnold Schwarzenegger ich habe getroffen. Sprach sogar gut Deutsch.“ Das Erste, was er von ihr wissen wollte: ihren Körperfettanteil. Wusste sie natürlich nicht, war nie ihr Thema. Wie viel sie wiegt, wollte er dann wissen. „Aber das fragt man eigentlich nicht eine Frau, oder?“

Eine Freundin von ihr kommt zum Interview dazu, Ljudmilla Prince. Auch sie hat für die Sowjetunion geturnt, aber für Ljudmilla Prince war mit 23 Schluss. Jetzt ist sie Trainerin in Deutschland. Befragt, ob sie es bereut, so früh aufgehört zu haben, schweigt sie kurz, Oksana Chusovitina antwortet: „Natürlich! Muss man bereuen.“ Die Trainer seien schuld, wenn die Frauen so früh aufhören. Sie hätten kein Vertrauen, dass es weitergehe. Sie habe auf die Trainer nicht gehört, zum Glück.

Sie turnt weiter, sie kennt ja nichts anderes

Es ist erstaunlich, diese beiden Frauen nebeneinander zu sehen, beide ähnlich klein, etwas über 1 Meter 50, die eine unverkennbar eine Frau, die andere – nun ja, eine Frau in einem knabenhaften Sportlerkörper. Sie trägt drei Ohrstecker am rechten Ohr, einen am linken, ihre Fingernägel hat sie mit unterschiedlichen Farben lackiert. Die Cheftrainerin der deutschen Turnerinnen, Ulla Koch, die die Chusovitina seit Jahren kennt, sagt zu diesem Körper: „Der ist einzigartig, eine Ausnahme. Oksana war selten verletzt und hatte auch nie Gewichtsprobleme. Sie konnte immer essen, was sie wollte.“

Nur wenn sie Trainingspausen mache, sagt Chusovitina, sei es ein bisschen schwierig mit dem Gewicht: „Dann werde ich leichter, weil die Muskeln weggehen.“

Also turnt sie weiter, immer weiter, denn sie kennt ja gar nichts anderes. Wenn sie sich die jungen Mädchen um sich herum ansieht, was fühlt sie da? – Wie, was soll sie fühlen? Sie versteht die Frage nicht. Na, ob sie manchmal einen kleinen Neid empfindet auf diese fitten, frischen Menschen? „Oh, ach so. Nein, nein! Die haben ja noch alles vor sich!“

Der Sohn soll kein Sportler werden

Auch ihr Sohn, längst von der Leukämie geheilt, hat mal geturnt und war auch talentiert. Nur nicht so fleißig. Er hat dann Fußball gespielt, aber auch das ist ihm inzwischen zu anstrengend. „Jetzt will er Bowling machen. Muss man nicht viel laufen“, sagt sie. Auf keinen Fall soll er Leistungssportler werden! Aber warum denn nicht, sie selbst ist doch zufrieden mit ihrem Sportlerinnenleben? „Ja bin ich. Aber er soll nicht. Zu schwer.“

Da ist sie wie ihre eigene Mutter. Die hat noch immer Angst um ihre Oksana, jedes Mal sagt sie: Hör doch auf. „Dann sage ich: Mama, du hast auch 40 Jahre lang gearbeitet.“ Bei ihr sind es gerade einmal 30.

Und morgen ist wieder ein Arbeitstag: das Finale einer Weltmeisterschaft.

Erschienen auf der Dritten Seite.

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