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Sport: Über ein versehentlich abgesetztes Fußballspiel in Schweden, fünf Tage vor Kriegsbeginn

Es war der letzte Freitag im August 1939. Die Sonne brannte heiß vom wolkenlosen Himmel.

Es war der letzte Freitag im August 1939. Die Sonne brannte heiß vom wolkenlosen Himmel. Hundstage. Durch das leere Berliner Olympiastadion hechelten um die Mittagszeit 15 Männer in Trainingsanzügen. Die Spieler der deutschen Fußball-Nationalmannschaft trainierten vor ihrem Abflug zu einem Länderspiel gegen Schweden. "Es war eine höllische Schwitzkur", fand Reichstrainer Josef Herberger. Er hatte sie verordnet, weil auch das Länderspiel für Sonntag, den 27. August, in Stockholm für 14 Uhr angesetzt worden war.

Wie immer hatte Herberger seine Männer schon vor der Anreise brieflich auf Touren gebracht: "Kameraden!" schrieb er ihnen am 1. August. "In wenigen Tagen beginnt die neue Spielzeit! Das erste Spiel führt uns gleich gegen einen spielstarken Gegner. Sie zählen zu dem Kreis der Spieler, der die Mannschaft gegen Schweden stellt. Also, Kamerad! Die Nationalmannschaft ruft! Das Konditionstraining ist sofort aufzunehmen! Heil Hitler!"

Jetzt waren die meisten Spieler mit dem Nachtzug in Berlin eingetroffen und hatten sich im Hotel Russischer Hof versammelt, dem Stammquartier des Deutschen Fußball-Bundes seit eh und je. Die Stimmung war glänzend. "Für drohende Wolken am politischen Himmel keine Anfälligkeit", notierte Herberger in sein Tagebuch.

Die Mannschaft ging am Nachmittag geschlossen in den Kaffeegarten der Kroll-Oper. Gut gelaunt schlenderten die Spieler danach zurück ins Hotel, ein ruhiges Haus direkt am Bahnhof Friedrichstraße. Am Hoteleingang wartete Georg Xandry, der Generalsekretär des Deutschen Fußball-Bundes. Herberger vergaß diese Szene nie: "Ich sehe es noch, als ob es heute wäre, wie er uns langsam entgegenschritt, auf mich zukam, unter den Arm fasste, mich aus der Gruppe löste und mit mir zurückblieb." Noch ahnte Herberger nicht, da brach es aus Xandry heraus: "Das Spiel ist abgesetzt." "Was?" fragte der Trainer. "Warum?" "Wegen drohender Kriegsgefahr."

Herberger: "Ich fiel aus allen Wolken. Und während er noch frug, wie wir uns den Spielern gegenüber verhalten wollten, entschied ich, dass diesen vorerst auf keinen Fall etwas gesagt wird. " Dazu sei am Samstag früh - der Abflug nach Stockholm war für den Nachmittag angesetzt - noch Zeit genug. Die übrigen Herren der Reisegesellschaft nach Stockholm wurden von Xandry entsprechend verständigt und ebenfalls zum Stillschweigen gegenüber den Spielern verpflichtet.

Am Abend zog die Mannschaft dann zu einer Boxveranstaltung in den Berliner Sportpalast, wo Gustav Eder boxte. Herberger kriegte nicht viel mit vom Geschehen im Ring. Direkt vor ihm saß der Münchner Jakob Streitle, der gerade seine Dienstzeit ableistete, Herberger hatte ihn in telefonischen Verhandlungen mit seinem Kommandeur für dieses Länderspiel erst in letzter Minute loseisen können. Sechs seiner Vordermänner hatten gerade ihren Wehrdienst beendet. "Sie waren in wenigen Tagen wieder Soldat, wenn es ernst werden sollte; das galt auch für die anderen Spieler unserer Mannschaft."

Wegen der strengen Geheimhaltung hatte Herberger die Hotelleitung angewiesen, alle eintreffende Post und Telegramme für ihn zu sammeln. Als die Gruppe ins Hotel kam, war er der erste am Empfang - ein Telegramm, das Streitles sofortige Rückrufung forderte, behielt er zunächst bei sich. Josef Herberger schlief nicht gut in dieser Nacht.

Am nächsten Morgen setzte Herberger die Mannschaft in Kenntnis. Die Enttäuschung über die Absage war groß, der Grund allerdings schien die Spieler kaum zu beunruhigen. Der Düsseldorfer Paul Janes war der erste, der in seiner trockenen Art reagierte: "Wenn wir das gestern gewusst hätten, dann hätten wir uns nicht im Trainingsanzug unter der Hitze so quälen müssen." Und der Schalker Adolf Urban fand: "Jetzt wird aber gefrühstückt."

Dann allgemeiner Aufbruch. Die Schweinfurter Kupfer und Kitzinger brachte Herberger zum Anhalter Bahnhof, um 12.30 Uhr war er zu Hause, gerade rechtzeitig für einen Anruf von Xandry. "Sitzen Sie gut?" fragte der. Das Auswärtige Amt habe angerufen. "Wir wollen auf jeden Fall nach Stockholm, da war etwas schiefgelaufen!" Die Schweden wollten jetzt ein Flugzeug schicken. Aber Herberger lehnte ab: "Ich lasse mich auf nichts mehr ein." Es wäre auch unmöglich gewesen, die Leute noch einmal rechtzeitig nach Berlin zurückzuholen, alle saßen bereits in ihren Zügen nach Hause. Im Übrigen stand ihm jetzt der Sinn nicht mehr nach einem Spiel.

So, wie die Spieler die Nachricht über den drohenden Krieg zunächst mit einer völlig banalen Reaktion abgewehrt hatten, so versuchte auch Herberger, fast verzweifelt, an seiner Vorstellung von Normalität festzuhalten. Noch war ja nichts passiert. Dass Hitler den Überfall auf Polen im letzten Augenblick um eine Woche verschoben hatte, weil Mussolini nicht bereit war mitzuziehen, wusste damals niemand. Am 27. August, an dem Sonntag, an dem das Länderspiel hätte stattfinden sollen, berichtete Herberger seinem Chef Felix Linnemann von der Nachricht des Auswärtigen Amtes, dass "die Fahrt nach Stockholm gestattet, ja erwünscht" sei. Ein Rückruf der Spieler sei aber nicht mehr möglich gewesen.

Am folgenden Freitag, dem 1. September, war Herberger mit seiner Frau auf dem Weg zum "Kranzler", wo sie endlich einmal gemeinsam Kaffee trinken wollten, als ihnen an der Straßenecke Unter den Linden/Wilhelmstraße Hitler und Göring im Auto begegneten. Herberger sah Hitler im ersten Wagen stehen, Göring in feldgrauer Uniform daneben. Herbergers setzten ihren Weg zum Kranzler fort, wo sie schon an der Tür merkten, dass der Cafébetrieb unterbrochen war. Alle standen, und dann tönte aus dem Lautsprecher Hitlers Stimme: "Seit 5.45 Uhr wird zurückgeschossen."Jürgen Leinemanns Buch Sepp Herberger: ein Leben, eine Legende ist erschienen im Verlag Rowohlt Berlin.

Jürgen Leinemann

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