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© Ullstein

Unsere Serie: Sternstunden der Leichtathletik: Jesse Owens: Das verlorene Gold

Nach seinen ersten drei Olympiasiegen wollte Jesse Owens 1936 auf die Teilnahme an der Sprintstaffel verzichten und Sam Stoller und Marty Glickman den Vortritt lassen. Doch die amerikanischen Trainer ließen sie nicht starten – weil sie Juden waren?

Drei Mal war Jesse Owens nach dem Krieg in Berlin, und immer ist er an der Marmortafel im Olympiastadion fotografiert worden. Am Marathontor, wo die Olympiasieger von 1936 eingemeißelt sind, Owens gleich vier Mal, von oben nach unten: über 100 Meter und 200 Meter, im Weitsprung und über 4 x 100 Meter. Weil die Tafel so hoch ist, zeigt Owens auf den Fotos immer auf den unteren Teil – dorthin, wo der amerikanische Staffelsieg dokumentiert ist. Owens war der Startläufer, doch er hat dieses vierte Gold nicht wirklich gewollt. Es ging auf Kosten anderer. Für Jesse Owens mussten Sam Stoller und Marty Glickman auf ihren Start verzichten, sie waren die beiden einzigen Juden in der amerikanischen Leichtathletik-Mannschaft. Bis heute hält sich die Legende, die Amerikaner hätten Stoller und Glickman zurückgezogen, um Adolf Hitler die Zumutung zweier jüdischer Olympiasieger zu ersparen.

Es ist eine Geschichte voller Widersprüche, mit Schurken, Helden und Opfern. Mit Trainern, die persönliche Interessen verfolgten und blind waren für das verheerende Signal, das von ihnen ausging. Mit einem späteren IOC-Präsidenten, der unverhohlene Bewunderung empfand für Hitler und seine Entourage. Mit einem schwarzen Star, der sich für seine weißen Kameraden einsetzte und dafür barsch zurechtgewiesen wurde. Es ist ein historisches Puzzle mit Fakten und Vermutungen, von dem man auch nach 73 Jahren noch nicht weiß, wie es richtig zusammengesetzt wird.

Die Beteiligten sind längst tot. Als Letzter ist vor acht Jahren Marty Glickman gestorben, einer der beiden verhinderten Olympiasieger von 1936. Nach dem Krieg war er noch zwei Mal in Berlin, natürlich hat er das Olympiastadion besucht und ein wenig traurig die Tafel mit den Olympiasiegern betrachtet. Marty Glickman interpretiert das Puzzle als Verschwörung deutscher und amerikanischer Nazis gegen die beiden einzigen Juden im US-Team. Seine Autobiografie „The Fastest Kid on the Block“ liegt nur in der amerikanischen Originalversion vor. Sie ist es wert, gelesen zu werden. Jetzt, da die besten Leichtathleten der Welt sich zur WM wieder in Berlin versammeln.

Jesse Owens hat sich spät dazu entschlossen, an den Spielen von Berlin teilzunehmen. Noch im November 1935 sagt er in einem Radio-Interview: „Wenn es in Deutschland eine Diskriminierung von Minderheiten gibt, sollten wir unsere Teilnahme an den Olympischen Spielen zurückziehen.“ Die Möglichkeit eines Boykotts wird in den USA seit 1934 lebhaft diskutiert. Am Ende ist es der amerikanische NOK-Chef Avery Brundage, der die Teilnahme seines Landes durchsetzt.

Brundage ist ein Unternehmer aus Chicago. 1972 wird er zur Legende, als er nach dem Anschlag auf die israelischen Sportler bei den Spielen in München fordert: „The Games must go on!“ Derselbe Brundage wähnt 1936 hinter den Forderungen nach einem Boykott eine „jüdisch-kommunistische Verschwörung“. Im Auftrag des amerikanischen NOK (AOC) hat er sich in Berlin im Gespräch mit Vertretern jüdischer Sportverbände nach deren Situation erkundigt. Die Feststellung, dass Juden nicht Mitglieder deutscher Sportvereine werden dürfen, kontert Brundage mit der Bemerkung: „In meinem Club in Chicago sind Juden auch nicht zugelassen.“ Im Dezember 1935 votiert das AOC mit 58:55 Stimmen für die Teilnahme an den Spielen.

Für Owens und Glickman beginnt das Unternehmen Olympia im Juli 1936 mit den Ausscheidungsrennen im Stadion von Randalls Island in New York. Die drei Schnellsten sind für das olympische Einzelrennen qualifiziert, die folgenden vier sollten die Staffel bilden. So ist es Tradition bei den Amerikanern. Bei den Spielen 1932 in Los Angeles verzichteten sie auf die Medaillengewinner Eddie Tolan (Gold) und Ralph Metcalfe (Silber), dennoch reicht es mit deutlichem Vorsprung vor Deutschland zum Olympiasieg.

Metcalfe ist auch 1936 wieder dabei, in der Qualifikation belegt er hinter Owens Platz zwei. Glickman schreibt in seiner Autobiografie, er selbst sei zunächst auf Platz drei gesetzt worden, doch dann habe sich Dean Cromwell zwischen die Kampfrichter gedrängt. Cromwell ist Assistenztrainer der amerikanischen Sprinter, im Hauptjob betreut er die Athleten der University of Southern California (USC). Zwei von ihnen, Frank Wykoff und Foy Draper, sind auch beim olympischen Qualifikationsrennen am Start. Es gibt kein Zielfoto, die Kampfrichter diskutieren und platzieren schließlich Wykoff und Draper auf die Plätze drei und vier. Glickman hakt die Entscheidung nach kurzer Enttäuschung ab. Er ist für Berlin qualifiziert und glaubt fest daran, dass er mit der Staffel Gold holen wird.

Ein paar Wochen später reist die amerikanische Mannschaft auf dem Dampfer „Manhattan“ von New York nach Hamburg. Fotos zeigen Jesse Owens beim Weitsprungtraining an Deck und bei Sprintübungen mit Metcalfe und Wykoff. Für den schnellsten Mann der Welt ist es eine Reise in eine andere Welt. In Hamburg und später im olympischen Dorf in Elstal bei Berlin darf er im selben Gebäude wohnen wie seine weißen Teamkameraden. In New York sind die Hotels der Innenstadt für Schwarze gesperrt.

Glickman hat zunächst viel Zeit zum Training. Die Staffelwettbewerbe finden an den letzten beiden Tagen der Spiele statt. Zwei Wochen lang üben Glickman, Draper und Stoller auf der Bahn im olympischen Dorf die Finessen des Stabwechsels. Als vierter Läufer ist der erfahrene Wykoff gesetzt, er hat schon 1928 und 1932 Gold über 4 x 100 Meter geholt, im Einzelrennen wird er Vierter hinter Owens, Metcalfe und dem Holländer Osendarp. Nach Owens’ Sieg über 200 Meter wird der amerikanische Sprinttrainer Lawson Robertson gefragt, ob der nunmehr dreimalige Olympiasieger auch für die Staffel nominiert werde. Robertsons Antwort ist eindeutig: „Owens hat genug Ruhm und Goldmedaillen gesammelt. Wir wollen den anderen Burschen die Gelegenheit geben, die Atmosphäre bei der Siegerehrung zu genießen.“

Zwei Tage vor den Vorläufen veranstalten Robertson und sein Assistent Cromwell auf der Trainingsbahn im olympischen Dorf ein 100-Meter-Testrennen zwischen den Sprintern, die nicht an den Einzelrennen teilnehmen. Fast die gesamte amerikanische Mannschaft sieht zu, wie Stoller um eine Fußbreite vor Glickman siegt, Draper folgt weit abgeschlagen als Dritter. Stoller notiert in seinem Tagebuch, Cheftrainer Robertson habe ihm versichert: „Sehr gute Arbeit, Sam, mach dir keine Sorgen, du hast deinen Platz in der Staffel sicher.“

Es kommt anders. Am 8. August 1936, wenige Stunden vor dem Start der Vorläufe, rufen die Trainer die sieben Sprinter zu einer Besprechung zusammen. Robertson sagt, die Deutschen hätten ihre besten Sprinter versteckt, um die favorisierte amerikanische Staffel zu blamieren. Deshalb müsse er die Besetzung ändern, Owens und Metcalfe würden die Plätze von Glickman und Stoller einnehmen. Der Schock verschlägt Glickman für einen Augenblick die Sprache. Dann siegt die Wut in dem 18-Jährigen. „Coach, Sie können keinen Weltklassesprinter verstecken“, ruft Glickman in die Stille hinein. „Um ein Weltklassesprinter zu sein, braucht man Praxis in Weltklassewettbewerben.“ Dann hat Jesse Owens seinen großen Auftritt: „Coach, lassen Sie Marty und Sam laufen, sie verdienen es. Ich habe schon drei Goldmedaillen gewonnen. Ich bin müde.“ Dean Cromwell, der die Teilnahme seiner Heimathleten Draper und Wykoff durchgesetzt hat, fällt Owens ins Wort. Mit dem Finger zeigt er auf den Star der Spiele und fährt ihn an: „Du machst, was dir gesagt wird!“ Owens verstummt. Ein letztes Mal meldet sich Glickman, diesmal mit einem politischen Argument: „Coach, Sie wissen, dass Sam und ich die einzigen Juden im Leichtathletikteam sind. Wenn wir nicht laufen, wird es zu Hause eine Menge Ärger geben.“ Robertson antwortet: „Das werden wir ja sehen.“

Sportlich ist der Einsatz von Owens und Metcalfe nicht zu beanstanden, sie sind die schnellsten Sprinter der Welt. Und doch birgt ihr Einsatz ein Risiko. Glickman und Stoller sind zwar langsamer als Owens und Metcalfe, haben aber zwei Wochen lang die Stabübergabe trainiert. Owens und Metcalfe haben das Staffelholz bis zum olympischen Vorlauf kein einziges Mal in die Hand genommen. Die einzige Gefahr, die den Amerikanern droht, ist ein irregulärer Wechsel oder ein Fallenlassen des Stabes.

Im Olympiastadion aber läuft alles, wie es Glickman prophezeit hat. Schon im Vorlauf sind die Amerikaner die Ewigkeit von 1,4 Sekunden schneller als die Deutschen, die ihre Wunderläufer weiterhin versteckt haben, wie übrigens auch am nächsten Tag im Finale, das die Amerikaner mit der Weltrekordzeit von 39,8 Sekunden gewinnen, die Deutschen werden mit großem Abstand Dritter. Stoller ist gar nicht erst ins Stadion gekommen, er hat aus Wut über die späte Ausbootung seine Karriere für beendet erklärt. Glickman sitzt auf der Tribüne und verfolgt mit einer Mischung aus Wut und Sentimentalität, wie Metcalfe auf der ihm zugedachten zweiten Position die Gegengerade entlangsprintet und auf Draper wechselt. In seinem Buch zitiert Glickman einen Artikel von Lewis Burton im „New York Journal American“ über das Staffelrennen: „Ein paar Minuten nach dem Rennen sah es so aus, als würde Amerika des … Regelverstoßes beim Wechsel zwischen Metcalfe und Draper für schuldig befunden werden. Zweimal ging der Wechselrichter zur Jury, um Beschwerde vorzutragen, zweimal änderte er seine Meinung.“

Eine Disqualifikation der amerikanischen Staffel hätte in der Heimat wohl einen Sturm der Empörung provoziert. So bleibt es bei vereinzelten Irritationen. Glickman schreibt in seiner Autobiografie, Cheftrainer Robertson habe ihn im Olympischen Dorf um Verzeihung gebeten: „Marty, ich habe einen schrecklichen Fehler begangen!“ Offiziell hat er sich nie so geäußert. Brundage schreibt in seinem Abschlussbericht über die Spiele: „Dass zwei Sportler wegen ihrer Religionszugehörigkeit aus der Staffel ausgeschlossen wurden, ist absurd. Beide waren nur Ersatzläufer. Maßgeblich war das Ergebnis der Qualifikation in Randalls Island. Owens, Metcalfe, Wykoff und Draper belegten die ersten vier Plätze.“

Und doch bleiben Fragen: Welchen Sinn hatte der Unfug mit den versteckten deutschen Wunderläufern, wenn er nicht als Rechtfertigung für die Ausbootung von Stoller und Glickman dienen sollte? Warum richteten sich die Trainer nicht nach dem Ergebnis des teaminternen Rennens, das Stoller und Glickman zwei Tage vor dem Staffelwettbewerb klar gegen Draper gewannen?

Glickman zitiert Owens in seinem Buch mit der Bemerkung, er halte nichts von der Theorie, Brundage hätte dem von ihm bewunderten Hitler zwei jüdische Olympiasieger ersparen wollen: „Die Deutschen hat es nie interessiert, gegen wen sie verloren haben … Aber Draper und Wykoff waren von Southern California. Und Dean Cromwell war ihr Coach.“ Dagegen behauptet Ralph Metcalfe, er war schwarz wie Owens und brachte es später bis zum Kongressabgeordneten: „Ich glaube, es war diese jüdische Sache!“ Beweise dafür gibt es nicht, nur Indizien und Gerüchte. Etwa, dass Hitlers Propagandachef Goebbels Brundage schriftlich gebeten habe, die amerikanischen Juden von den Spielen fernzuhalten. Dieser Brief, den Brundage angeblich an die Sprinttrainer weitergereicht hat, ist nie aufgetaucht. Auch für die Behauptung, Hitler habe Brundage damit gedroht, die Spiele abzubrechen, wenn amerikanische Juden an den Start gingen, findet sich kein Beleg.

Vielleicht liegt es am journalistischen Talent des späteren Radio- und Fernsehreporters Glickman, dass die Verschwörungstheorie bis heute so viel Sympathie und Glaubwürdigkeit genießt. Gewiss aber auch daran, dass Avery Brundage einen so formidablen Schurken abgibt. Schon in den dreißiger Jahren wird er in vielen Zeitungen offen als Nazi bezeichnet. Nach den Spielen behauptet er als Gastredner bei einer Veranstaltung des Deutsch-Amerikanischen Bundes, die USA könnten viel vom neuen Deutschland lernen, etwa bei der Bekämpfung des Kommunismus. Wenig später bekommt seine Baufirma den Auftrag für einen Neubau der deutschen Botschaft in Washington. Wie der umstrittene Trainer Dean Cromwell gehört Brundage zum „America First“-Komitee, das die USA aus dem Krieg heraushalten will. Und noch 1971 beharrt er als IOC-Präsident darauf, dass „die Berliner Spiele die besten in der modernen Geschichte waren. Über diese Tatsache dulde ich keine Diskussion“.

Seine späten Nachfolger sehen das ein wenig anders. Was die Propagandaspiele von 1936 betrifft, aber auch das Drama um Marty Glickman und Sam Stoller. 62 Jahre nach den Spielen von Berlin bekundete William J. Hybl, der Präsident des amerikanischen NOK, es habe „damals große Anzeichen von Antisemitismus“ gegeben. Hybl ehrte Glickman mit einer speziellen Plakette, „an Stelle der Goldmedaille, die er 1936 nicht gewonnen hat“.

Lesen Sie morgen: Armin Harys 100-Meter-Weltrekord 1960.

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