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Sport: Unvollendet in Barcelona

Schalke ist draußen, das Wunder bleibt aus, der Fußballgott ist tot. Aber schön war’s doch. Fast so schön wie damals in Mailand

Von Markus Hesselmann

Wo in der Welt wäre die Hoffnung auf ein Wunder wohl aussichtsreicher als im Haus der Heiligen Familie? „Wir wollen zwei Kerzen anzünden“, sagt Werner Jedersberger. Mit seinem Freund Martin Müllenmeister steht er vor der Sagrada Familia. Der tiefe Wunsch nach einem Wunder führt die beiden Fans her, zu Antoni Gaudis Kathedrale und danach ins Stadion Nou Camp zum Spiel des FC Schalke 04 beim FC Barcelona. Doch das Wünschen hat nicht geholfen. Schalke verliert 0:1 und scheidet im Viertelfinale der Champions League aus.

Ob es an den Kerzen lag? Die beiden Schalker haben dann nämlich doch keine angezündet. Das wäre auch gar nicht gegangen. Die Kathedrale, Gaudis großes, unvollendetes Werk, ist eine Baustelle und bleibt es auch noch eine Weile. „Ich wusste das natürlich“, sagt Müllenmeister und rattert die Eckdaten runter: Grundsteinlegung 1882, Arbeiten nach Gaudis Tod 1926 immer wieder unterbrochen, Fertigstellung für 2026 geplant. „Ich bin ja eigentlich ein Intellektueller", sagt der Mann in Königsblau und lacht. Der 42-jährige Schalke-Fan – „in dritter Generation“ – ist Versicherungsmakler und studiert Kunstgeschichte. Er will sich auf Kunstversicherungen spezialisieren. Und die Idee mit den Kerzen, die war nicht ganz ernst gemeint.

Aber sie passt zum Fußball, der oft und gern mit einer Religion verglichen wird. Und sie passt zu Schalke, wo sie angeblich schon immer etwas fester geglaubt, geliebt und gehofft haben als anderswo. Wer in diesen Tagen in news.google.de, die Nachrichtensuchmaschine, die Begriffkombination „Schalke“ und „Wunder“ eingibt, erhält Hunderte aktuelle Texte zum Thema.

Wo Religion ist, ist Philosophie nicht weit. Vor allem die Fußballphilosophie, die im letzten Jahrzehnt einen Aufschwung erlebte. „So zu tun, als gebe es den Fußball nicht und also keine Meinung zu ihm zu haben, wie es noch vor wenigen Jahrzehnten möglich und für Intellektuelle durchaus üblich war, das wirkt heute beinahe sektiererisch und jedenfalls hoffnungslos unzeitgemäß“, schreibt Hans Ulrich Gumbrecht. Der deutsche Philosoph äußert sich öfter zum Fußball, zum Beispiel in „Lob des Sports“. Im neuen Sammelband der Autoren-Nationalmannschaft, „Titelkampf“, greift er das Thema wieder auf. „Nichts ist Fußball in Deutschland heute weniger als eine Religion“, meint Gumbrecht. „Denn nichts im deutschen Leben ist diesseitiger als Fußball, und nichts ist eine selbstgenügsamere Wirklichkeit.“ Gumbrecht macht in seiner Analyse aber eine Einschränkung. Von seiner Allgegenwart her hält er den Fußball heute für vergleichbar mit der Religion im Mittelalter. Er ist einfach da, bleibt als „einzig richtige Ordnung“ ohne Alternative.

Eine Fußballfahrt mit 7000 Schalke-Fans ist der ideale Feldversuch, um Gumbrechts Thesen zu testen. Hinfort also mit Opferkerzen, Stoßgebeten und dem ganzen sakralen Ballast. Die Aufmüpfigkeit der Fans, ihre Entschlossenheit, durch Sprechchöre, Pfiffe und Buhrufe ins Geschehen auf dem Platz einzugreifen, ist nun auch wirklich kaum mit der devoten Haltung von Wallfahrern und Kirchgängern zu vergleichen.

Die Reise nach Barcelona ist weniger eine Pilgerfahrt, als ein sehr profaner Trip. Es geht darum, die eigene Biografie anzureichern. Erlebe Außergewöhnliches und rede davon. Ob an der Kathedrale, auf den Ramblas oder beim offiziellen Fantreff am Stadthafen: Barcelona ist voll von Königsblauen, die sich die Taten vergangener Auswärtsfahrten erzählen oder voreinander mit ausgeklügelter Reiselogistik glänzen. Eine typische Geschichte geht so: Sieben Mann fahren morgens um halb vier mit zwei Autos in Bottrop los. Richtung Amsterdam. Hinflug mit KLM. Sightseeing. Das Spiel. Die Nacht auf den Ramblas. Vor Sonnenaufgang zum Flughafen. Rückflug nach Amsterdam mit Clickair. Vormittags wieder in Bottrop. Zeit fürs Bett.

Martin Müllenmeister hat mit dem Fußball viel erlebt und redet darüber gern. Zum Beispiel vom „Marsch nach Dortmund“ in der vergangenen Saison, als sich 20 000 Schalke-Fans zum Revierrivalen BVB aufmachten, um dort mitanzusehen, wie ihr Team seine Meisterschaftschancen mal wieder nicht nutzte. „Als Schalke-Fan musst du leiden“, sagt Müllenmeister und schaut ehrfurchtsvoll auf die Kathedrale. „Jesus hat aber noch mehr gelitten.“ An den so oft beschworenen Fußballgott glaubt der Schalke-Fan nicht. Gott schlage sich nicht auf eine Seite. Er greife nur ein, wenn es wichtig sei für die ganze Welt. Zum Beispiel 1941 vor Moskau. „Wenn der Adolf da gewonnen hätte, dann hätte er das alles hier platt gemacht“, sagt Müllenmeister und zeigt hinüber auf Gaudis Bauwerk.

Die Schalker Leiden wurden in Barcelona verlängert. Eine starke erste Halbzeit, ein unverdientes Tor für den Favoriten, eine schwache zweite Halbzeit. Das war’s. Dafür haben Martin Müllenmeister und Werner Jedersberger je 600 Euro ausgegeben – für Ticket, Flug und Hotel. „Es hat sich gelohnt“, sagt Müllenmeister ohne einen Anflug von Trotz. „Und Schalke kommt ja auf jeden Fall wieder hierher.“

Bis auf weiteres leben die Schalker aber eher in der Vergangenheit. Büskens, Mulder, Wilmots: Es ist das Jahr 2008, Schalke spielt erstmals im Viertelfinale der Champions League, beim großen FC Barcelona, und dennoch erinnert ein Großteil der Namen hinten auf den Fantrikots an 1997, den Uefa-Cup-Gewinn bei Inter Mailand. Das war damals kein Wunder, sondern Ergebnis harter Arbeit, da sind sich die Fans einig. Solche Malochertypen bräuchte das Team heute wieder, heißt es in den Ramblas-Gesprächen. Und einen der 97-er treffen sie auf dem Weg zum Stadion dann sogar persönlich. Der Holländer Johan de Kock fährt mit der U-Bahn nach Nou Camp, den blau-weißen Fanschal um den Hals. Der ganze Waggon ruft minutenlang seinen Namen. Eine glückliche Schalker Familie – ohne Heilige, aber mit Helden.

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