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© AFP

Usain Bolt: "Ich dachte sofort an Jesse Owens"

IOC-Vizepräsident Bach über Bolts Rekordläufe, Pechsteins Blutwerte, Lücken bei Dopingtests und Berlins Warten auf Olympische Spiele

Herr Bach, die Zahl 9,58…

…steht für ein tolles Erlebnis in Berlin. Usain Bolt ist ein Jahrhunderttalent, das sieht man nicht nur an seiner Sprintzeit über 100 Meter, sondern an seinem Laufstil mit der großen Hebelwirkung. Ich finde es begeisternd, diese Mischung aus Ästhetik und Dynamik zu sehen.

An welches Tier erinnert Sie Bolts Laufstil?

An eine Gazelle. Aber er ist ja ein Mensch. Wenn man ein Lehrbuch über perfektes Laufen machen würde, dann wäre er es.

Oder ein Lehrbuch über perfektes Doping.

Auch Usain Bolt hat das Recht, nicht mit dem Generalverdacht überschüttet zu werden. Und es hat immer auch solche Jahrhunderttalente gegeben, die ihrer Zeit voraus waren – unter anderem Sergej Bubka.

Aber es ist schwer zu glauben.

Man darf sich bei aller Skepsis nicht die Freude am Sport kaputt machen. Auch der Zuschauer hat ein Recht auf Begeisterung; davon lebt der Sport.

Sie vertreten den organisierten Sport, Sie müssen das glauben. Oder wollen Sie es glauben?

Ich glaube es einfach. Ich sehe die Realität einer übergroßen Anzahl von sauberen Athleten. Für die will ich eintreten, die möchte ich begeistert feiern.

Sie wissen doch gar nicht, ob die Athleten, für die Sie eintreten, sauber sind.

Moment mal. Ich sehe ja auch die anderen, die diese sauberen Athleten in den Doping-Sumpf hineinziehen. Für die gilt: null Toleranz.

Es gibt kaum Blutkontrollen in Jamaika, überhaupt kaum Blutkontrollen in der internationalen Leichtathletik. Macht Sie das nicht skeptischer?

Man muss die Systemfragen lösen von Einzelpersonen. Und man muss auch bei den Kontrollen differenzieren – zwischen den Bluttests für die Erstellung von Langzeitprofilen und den Bluttests für den sofortigen Nachweis von Doping. Hier gibt es noch Regelungslücken, keine Frage. Ich wünsche mir, dass die Welt-Anti-Doping-Agentur Wada dabei an die Praktikabilität denkt. Man kann nicht ein wunderbares Regelwerk machen, das juristisch wasserdicht ist, dem sie aber hinterher kaum gerecht werden können.

Was meinen Sie damit?

Es soll festgelegt werden, dass die Proben nur in akkreditierten Labors getestet werden dürfen. Das muss binnen 36 Stunden nach der Entnahme geschehen. In der Zwischenzeit muss die Probe bei einer bestimmten Temperatur gekühlt werden. Wenn man diesen Regeln folgen würde, müsste das Flugzeug für den Transport immer auch in der gleichen Höhe fliegen. Da wird es absurd; das bringt uns im Kampf für einen sauberen Sport nicht unbedingt weiter. Wenn ich alle diese Faktoren nachweisen muss, wird alles angreifbar. Das System der Blutkontrollen darf nicht im Regelwerk ersticken, und die Analyse darf keine Raketenwissenschaft werden.

Im Fall von Claudia Pechstein passiert genau das. Die Verteidigung der wegen Blutdopings gesperrten Eisschnellläuferin versucht gerade, dem Weltverband allerlei Form- und Verfahrensfehler bei den Blutkontrollen nachzuweisen. Nun sollen die Dopingjäger nachweisen, dass sie alles richtig kontrolliert haben.

Der Fall ist ein laufendes Verfahren, deshalb kann ich das nicht erörtern. Das Grundargument von ihr ist aber, dass die schwankenden Blutwerte auch auf natürliche Ursachen zurückzuführen seien.

Dafür hat sich bislang kein Anhaltspunkt ergeben.

Das Verfahren wird das aufklären müssen. Dazu ist es da.

Glauben Sie auch Claudia Pechstein?

Das ist keine Frage des Glaubens. Einem Athleten muss es erlaubt sein, auf Korrektheit zu klagen. Das würde, wenn hier der Nachweis gelänge, auch nicht das System erschüttern.

Sie sehen im Fall Pechstein keinen Präzedenzfall für den indirekten Dopingnachweis?

Es kann sein, dass Claudia Pechstein mittels ihrer Blutstudie den Nachweis erbringen könnte, dass ihre Werte auch auf natürlichem Wege so erhöht sind. Dann wäre es kein Präzedenzfall. Wenn es um die Verteilung der Beweislast geht, kann es einer werden. Ich wünsche mir ein rechtsgültiges Urteil, das die Beweislast für die Zukunft verlässlich regelt.

Wer trägt denn die Beweislast bei Blutproben?

Im Kodex der Wada sind die Grundsätze festgelegt. Aber wie die im Einzelfall ausgelegt werden, darüber können Sie juristische Bibliotheken füllen. Zunächst ist ja ein gewisser Grad an Vermutung da: Wenn erhöhte Werte gemessen wurden, kann mit großer oder größter Wahrscheinlichkeit auf Manipulation geschlossen werden. Auf der anderen Seite gibt es die Möglichkeit, diese Vermutung zu erschüttern. Das ist anders als bei dem direkten Nachweis, wenn die Substanz im Körper ist.

Bundesinnenminister Schäuble, der immerhin oberster Dienstherr von Frau Pechstein ist, hat gefordert, Claudia Pechstein müsse ihre Unschuld beweisen.

Ich denke, das war eine Aufforderung an Frau Pechstein, alles zu tun, um zur Aufklärung beizutragen. Da ist die von ihr angebotene Studie ihres Blutbildes ein richtiger Schritt.

Sieht so die Zukunft des Sports aus? Es gibt einen indirekten Beweis, der wird angefochten, und fünf Jahre später kann man sagen, dass Usain Bolt wahrscheinlich doch gedopt war.

Der Vorteil von Blutproben ist ja, dass sie auf Dauer eine schnelle und verlässliche Grundlage bilden. Wenn erst die Fragen des Verfahrens und der Beweislast geklärt sind, kann man schneller entscheiden und gezielter testen. Das würde auch Vergleiche erlauben und wäre eine neue Qualität im Kampf gegen Doping.

Dummerweise wird Sport dann zur Wissenschaft.

Der Sport hat schon viele Entwicklungen durchlaufen, zunächst eine Verrechtlichung. Und ich sage als Jurist, dass ich das sehr bedaure.

Warum?

Weil das dem Sport eine Menge seiner Spontaneität genommen hat und auch ein bisschen seines Wesens. Ich komme ja aus dem Fechten. Da war es immer Teil der Faszination, dass man wusste: Der Schiedsrichter kann mich auch mal falsch behandeln. Da hat man sich wütend die Maske vom Kopf gerissen. Aber eigentlich wusste man: Fehlentscheidungen sind hinzunehmen, und über die Dauer einer Karriere gleichen sie sich aus. Oder man hat es als Athlet selbst ausgeglichen, indem man mal was zugegeben hat oder auch nicht.

Jetzt wird sofort geklagt.

Heute gibt es Einspruchsverfahren und sogar Berufungsverhandlungen vor ordentlichen Gerichten. Alles ist immer weiter verfeinert worden. Nun, in der nächsten Phase, wird der Sport verwissenschaftlicht. Das hat auch positive Seiten, zum Beispiel beim Training. Früher wurden wir mit Sandsäcken den Weinberg hochgejagt – wenn der Puls über 200 war, war die erste Stufe erreicht; und wenn man sich übergeben hat, war es ein gutes Training. Heute wird das besser dosiert, Muskelstränge werden aufgebaut, Schnellkraft geübt.

Die negative Seite ist Gendoping.

Vor ein paar Jahren noch haben sich Spitzenathleten die Anabolika reingefuttert und dann zugeguckt, wie ihre Muskeln wachsen. Inzwischen ist alles ausgefeilt, so sehr, dass man weiß: Das kann ein Athlet nicht alleine machen, weder von der Dosierung, noch von der Zeit der Anwendung, noch von der Kenntnis der Stoffe. Das sind Menschenversuche, das erinnert mich an Frankenstein.

Was glauben Sie denn, wie viel Prozent der Leichtathleten bei der WM sauber waren?

Im deutschen Sport haben wir im vergangenen Jahr 13 000 Dopingkontrollen durchgeführt. Es gab nicht einmal 70 positive Fälle. In den olympischen Sportarten sind nur etwa 0,5 Prozent unsaubere Athleten.

Herr Bach, das ist jetzt nicht Ihr Ernst.

Das ist Mathematik, das sind Fakten.

Alle Experten sagen, dass moderne Dopingmittel kaum noch zu finden sind – und wenn, dann in immer kürzeren Nachweiszeiten. Viele Sportler hatten schon negative Dopingproben und sind dann doch aufgeflogen.

Natürlich gibt es eine Dunkelziffer. Okay, nehmen Sie die gefundenen Sünder mal zwei. Meinetwegen mal drei. Selbst wenn man sie mal zehn nimmt, kommt man nur auf fünf Prozent. Sie sehen, ich glaube an das Gute im Sport.

Vielen Zuschauern geht es anders.

Denken Sie, die Dopingfälle haben mich nicht erschüttert? Bei manchen Athleten habe ich in Abgründe geschaut. Die waren umgeben von Blutbeuteln, Ärzten, Spritzen. Aber soll ich deshalb resignieren? Mich motiviert das eher, unsaubere Methoden aufzudecken.

Motiviert Sie nicht eher die Aussicht auf das Amt des IOC-Präsidenten?

Oh Gott, warum immer wieder dieses Thema? Im Oktober wird sich Präsident Jacques Rogge zur Wiederwahl stellen, mit meiner vollen Unterstützung.

Aber für die Zukunft wollen sie natürlich nichts ausschließen.

Etwas für die Zukunft auszuschließen, ist Philosophie.

Können wir daraus schließen, dass Sie auch eine weitere Berliner Olympiabewerbung nicht ausschließen?

Wir machen im Augenblick eine Olympiabewerbung für München. Natürlich freuen wir uns über das Berliner Interesse an Olympia, alles andere wäre vollkommen unlogisch. Aber Berlin muss sich jetzt mit Münchens Kampagne für die Winterspiele solidarisch zeigen. Wir dürfen nicht unsere deutschen Chancen kaputt machen, indem hier interne Fronten aufgebaut werden.

München ist nicht gerade eine Wintersportstadt.

Die Berge sind gleich um die Ecke. In Garmisch findet die alpine Weltmeisterschaft statt, das wird helfen. Und das Konzept ist nachhaltig und charmant. Natürlich gibt es auch Schwächen, aber die werde ich der Konkurrenz nicht auf dem Tablett des Tagesspiegels servieren.

Lohnt es sich für Berlin überhaupt, noch zu warten?

Berlin ist eine wunderbare Sportstadt, das hat sich bei der Leichtathletik-WM gezeigt. Das Publikum war voller Sportkenner und Sportliebhaber. Da fällt die Siebenkämpferin Jennifer Oeser auf der Bahn hin, Entsetzen lähmt das Stadion, und sie steht auf und das Publikum trägt sie zur Medaille. Das sind positive Siegergeschichten. Dazu braucht es keine Rekorde.

Auch keine 9,58?

Schwierige Frage. Usain Bolt hat den Moment dieser WM erschaffen. Als er über die Ziellinie lief, musste ich sofort an Jesse Owens denken – noch eine legendäre Leistung im Berliner Olympiastadion. Das hat mich berührt.

Das Gespräch führte Robert Ide.

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