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Sport: Vergesst das passive Abseits!

Streng philosophischer Klärungsversuch einer ewig strittigen Fußballfrage

Unter den zahllosen Problemen, die einen Fußballfan zum Philosophieren zwingen, ist das „passive Abseits“ zweifellos das drängendste. Doch wenn nicht alles täuscht, stehen der Fußballphilosophie nunmehr die begrifflichen Mittel zur Verfügung, wesentliche Problemaspekte des „passiven Abseits“ einer praxisrelevanten Klärung zuzuführen. Zwei Einsichten bleiben bei diesem Klärungsversuch vorausgesetzt: Erstens, die Abseitsregel als solche ist sinnvoll und unbedingt bewahrenswert. Zweitens, nicht jede Abseitsstellung ist strafbar.

Gemäß bestehender Fifa-Fußballregel 11 sollte ein Spieler nur für seine Abseitsstellung bestraft werden, sofern er „nach Ansicht des Schiedsrichters aktiv am Spielgeschehen teilnimmt“, und zwar, „indem er ins Spiel eingreift oder einen Gegner beeinflusst oder aus seiner Stellung einen Vorteil zieht“. Sind diese Bedingungen nicht erfüllt, ist der Spieler, bis auf weiteres, „passiv“ und damit straffrei im Abseits. Diese offizielle Regelformulierung hat offensichtliche Schwächen. Insbesondere legt sie den Gedanken nahe, zwischen der „aktiven Teilnahme am Spielgeschehen“ und einem „Eingriff ins Spiel“ oder einer „Beeinflussung des Gegners“ bestünde das Verhältnis der Bedeutungsgleichheit. Die konkrete Fußballerfahrung jedoch widerspricht solch einer Gleichsetzung – und zwar in annähernd jeder Partie. Wie wir alle wissen, ist es für einen im Abseits befindlichen Spieler durchaus möglich, seine/n Gegner spielrelevant zu beeinflussen oder seiner eigenen Mannschaft einen Vorteil zu verschaffen, ohne dabei selbst aktiv in die Situation einzugreifen. Eine wirksame Beeinflussung des Gegners tritt nämlich oft genug dadurch ein, dass der Abseits stehende Spieler sich dort befindet, wo er sich gerade befindet. Die pure Präsenz macht einen entscheidenden Unterschied. In solch allzu geläufigen Streitfällen gebiert die Fanfrage, ob der Spieler aktiv am Spielzug teilgenommen hat, die Antwort Nein. Die Frage hingegen, ob seine schlichte Anwesenheit einen abwehrenden Gegner beeinflusste, erfordert ein klares Ja. Der gesunde Fußballverstand wird von der Fifa-Regel mit anderen Worten zu der absurden Folgerung geführt, es sei einem Spieler möglich, sich passiv aktiv im Abseits zu befinden.

Angesichts dieser Tatsache wäre anzuerkennen, dass der sprachliche Kontrast des aktiv/passiv schlicht ungeeignet ist, die Möglichkeit einer „Beeinflussung des Gegners“ durch rein „körperliche Anwesenheit“ begrifflich abzudecken.

Eine sprachlich klar überlegene Lösung bietet hier der Begriff der „Präsenz“, und zwar so, wie der weltweit führende Sportphilosoph Hans- Ulrich Gumbrecht ihn verstanden wissen will. Gumbrecht schreibt: „Was uns präsent ist, befindet sich (ganz im Sinne der lateinischen Formel prä-esse) vor uns, in Reichweite unseres Körpers und für diesen greifbar.“ Ein im Abseits stehender Spieler wäre nach diesem Verständnis „im Spiel präsent“ und damit strafwürdig abseits, sofern er sich im Aktionsradius eines aktiv verteidigenden Gegners befindet und/oder zum Zeitpunkt der Ballabgabe einen möglichen Anspielpartner darstellte. Sportphilosoph Gumbrecht verknüpft seinen Präsenzbegriff ausdrücklich mit einer spezifischen „Form der Gelassenheit“, die es Menschen ermöglicht, „ruhig und zur gleichen Zeit hellwach zu sein“ und in der es „womöglich keinen Gegensatz zwischen völliger Unruhe und völliger Ruhe gibt“. Wie wenig eine so verstandene, hellwache Präsenz im Spiel damit zu tun haben muss, „aktiv am Spielgeschehen teilzunehmen“, beweisen nun gerade die größten Stürmer der Fußballgeschichte. Ob Gerd Müller, Andrej Schewtschenko, Roy Makaay oder gar Ronaldo, all diese Genies teilen die Eigenheit, über weite Strecken nicht sichtbar am Spielgeschehen teilzunehmen. Ja, ihre eigentliche Erfolgsaktivität besteht darin, so gelassen wie möglich den Schein der Teilnahmslosigkeit zu wahren, scheinbar nicht im Spiel zu sein, um dann, urplötzlich, an der richtigen Stelle aufzutauchen und wie aus dem Nichts den entscheidenden Treffer zu markieren. Obwohl diese Spieler also nur in ausgesuchten Momenten aktiv ins Geschehen eingreifen, sind sie stets präsent.

Eine konkret praktische Folge der Regel-Umstellung von der Passivität hin zur Präsenz läge darin, dass Spielertypen wie Makaay oder Ronaldo sehr viel häufiger strafwürdig im Abseits stehen, als die derzeit bestehende Formulierung es nahe legt. Denn allein die körperliche Präsenz solcher Spieler bewirkt eine spielrelevante Beeinflussung – insbesondere bei aufmerksam agierenden Abwehrspielern. Es gibt also eine philosophische Lösung für das ewige Problem des „passiven Abseits“. Und da das Problem nur zu präsent ist, wäre es höchste Zeit, von Seiten der Fifa begrifflich aktiv zu werden.

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