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Carsten Lichtlein war beim ersten Handball-Videobeweis direkt beteiligt.

© Imago

Videobeweis bei der Handball-WM: Achtung, Kontrolle in Katar!

Der Handball-Weltverband führt bei der Weltmeisterschaft den Videobeweis ein – ohne die Spieler zu informieren.

Doha - Carsten Lichtlein hatte die Situation am nächsten Morgen noch ziemlich genau vor Augen. Wie er da auf dem Hallenboden saß, die langen Beine weit ausgestreckt, und mit seinen nicht minder langen Armen versuchte, den abgefälschten Distanzwurf des Polen Michal Jurecki doch noch irgendwie aus dem oberen Bereich des Tores zu kratzen. „Hat bestimmt ziemlich komisch ausgesehen“, sagte der Keeper der Handball-Nationalmannschaft.

Für Diskussionen sorgte die Szene aus dem ersten Vorrundenspiel gegen den alten Rivalen und Nachbarn aus Polen in der Nachbetrachtung allerdings nicht primär wegen Lichtleins akrobatischer Verrenkungen – sondern weil sie ein Novum darstellte. Zum ersten Mal in der Geschichte der seit 1954 ausgetragenen Handball-Weltmeisterschaft kamen technische Hilfsmittel bei der Frage zum Einsatz, ob der Ball nun vollumfänglich hinter der Linie gelandet war oder eben nicht. War er übrigens, daran ließen die Fernsehbilder keinen Zweifel.

Kurioserweise hatten es die Entscheidungsträger vom Weltverband IHF versäumt, die technische Neuerung entsprechend zu kommunizieren. In der so genannten technischen Besprechung vor dem Turnierstart sei das Thema zwar angeschnitten worden, berichtete Bob Hanning. „Allerdings nur am Rande“, ergänzte der für den Bereich Leistungssport zuständige Vizepräsident des Deutschen Handball-Bundes (DHB). Bis zu den Spielern jedenfalls war die Information selbst drei Tage später nicht durchgedrungen. „Ist das wirklich so passiert?“, fragte Lichtlein sichtlich überrascht.

Bei seinen Teamkollegen hörte sich das sehr ähnlich an. „Ich habe davon auch erst am Morgen nach dem Polen-Spiel erfahren“, sagte Patrick Groetzki. „Prinzipiell kann ich diese Entscheidung im Sinne sportlicher Fairness nur begrüßen, weil man damit sicherstellt, dass alles mit rechten Dingen zugeht“, ergänzte der Außenspieler von den Rhein-Neckar Löwen, „aber es wäre schon gut gewesen, wenn man uns darüber informiert hätte.“

Dass die Szene zunächst nur den wenigsten Beobachtern auffiel, lag nicht zuletzt an der praktischen Umsetzung des neuen IHF-Beschlusses. Erst in der Zeitlupe war sehr deutlich ein weiterer Unparteiischer zu erkennen, der direkt hinter dem von Lichtlein gehüteten Tor und vor einem großen Monitor saß, über den wiederum die Wiederholung eingespielt wurde. Ein paar Sekunden und zwei Kontrollblicke später signalisierte der zusätzliche Schiedsrichter seinem Kollegen auf dem Spielfeld schließlich, dass es sich um einen regulären Treffer gehandelt hatte. Der Feldschiedsrichter drückte seinen Knopf noch ein wenig tiefer ins Ohr als ohnehin schon und zeigte auf den Mittelkreis: Anwurf Deutschland. „Gerade in solch engen Situationen, wie sie bei großen Turnieren immer wieder vorkommen, kann so eine Entscheidung mitunter spielentscheidend sein“, sagte Carsten Lichtlein. „Auch wenn sie in diesem Fall zu unserem Nachteil ausgefallen ist, halte ich die Entscheidung für absolut richtig“, ergänzte der Nationaltorhüter.

Inwiefern sich der IHF-Beschluss auf die nationalen Verbände und die weltweiten Ligen auswirkt, lässt sich dagegen noch nicht abschließend beurteilen. „Wir haben das jetzt einmal in einem wichtigen Spiel gesehen“, sagte der ebenfalls nach Katar gereiste Geschäftsführer des deutschen Ligaverbandes Handball-Bundesliga, Frank Bohmann. „Jetzt eine Diskussion darüber zu führen, ob und wenn ja, wann das auch in der Bundesliga so praktiziert wird, halte ich allerdings für verfrüht.“

Im Fußball war die Entscheidung über die Einführung des Videobeweises bekanntlich ein Politikum erster Ordnung, zu dem sich der Weltverband Fifa erst nach derart skandalösen Treffern entschloss, dass er im Grunde gar keine andere Wahl mehr hatte. Machbarkeit, Finanzierung, die Meinung der Vereine – all das müsse zunächst auch im Handball thematisiert und besprochen werden, sagte Bohmann. Und seine persönliche Meinung? „Wir sind Mitglied der IHF und müssen uns nach den Regeln des Verbands richten“, sagte Bohmann. „Wenn man uns morgen sagt, dass wir ab sofort mit Medizinbällen spielen, dann haben wir das erst einmal auch so hinzunehmen.“

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