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Sport: Vor dem Angriff kommt der Mut

Zuschlagen muss man können – und vorher richtig reden Immer mehr Frauen üben sich in Selbstverteidigung. Ein Besuch bei zwei Berliner Sportvereinen

Berlin - Ein Schwung, und alles ist vorbei. Annika Brückner führt ihren staunenden Kursteilnehmerinnen einen einfachen Trick vor. Ein Mann spielt den Angreifer, hält ihr Handgelenk fest umklammert und schaut sie grimmig an, als wolle er ihr Gewalt antun. Brückner demonstriert, dass der natürliche Reflex ihr nicht weiter hilft: Versucht sie, ihren Arm nach hinten herauszuziehen, um wegzulaufen, hat sie keine Chance. „Dafür habt ihr nicht genug Kraft“, sagt sie und zeigt den Ausweg: Sie dreht ihren Arm in Richtung der Öffnung zwischen Daumen und Zeigefinger des Angreifers, die Schwachstelle der Umklammerung. Im „Handumdrehen“, fast ohne Kraft, ist der Arm befreit und der Angreifer verdutzt – damit rechnet er nicht.

Solche kleinen Hilfestellungen sind es, die Frauen in einer Gefahrensituation zur Flucht verhelfen können. Wenn ihnen Gewalt zugefügt wird, sie sexuell belästigt oder auf der Straße angemacht werden, dann wissen Frauen oft nicht, wie sie sich verhalten sollen. Nach einer Studie des Bundesfamilienministeriums sind 37 Prozent aller Frauen ab dem 16. Lebensjahr mindestens einmal in ihrem Leben Opfer von körperlicher Gewalt geworden, sogar 58 Prozent haben bereits sexuelle Belästigung in unterschiedlicher Form erlebt. Viele dieser Frauen kennen ihre eigenen Kräfte gar nicht. Ein Grund für den Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) gemeinsam mit Kampfsportverbänden und Fraueninitiativen die Aktion „Gewalt gegen Frauen – nicht bei uns“ ins Leben zu rufen, die Sportvereine in ganz Deutschland dazu auffordert, Selbstverteidigungskurse für Frauen anzubieten.

In der Sporthalle des Oberstufenzentrums in Charlottenburg warten bereits drei Frauen in Karateanzügen. Das normale Training des Shirokuma e.V. fällt heute aus, zugunsten eines Schnupperkurses Selbstverteidigung. Die Karateka Judith, Petra und Birgit bleiben trotzdem. Sie sind zwischen Ende zwanzig und fünfzig und kennen bislang nur die körperlichen Aspekte der Verteidigung, die sie beim Karate anwenden. Kursleiterin Marlis Gebbing legt heute aber auf etwas anderes größeren Wert. „Viel wichtiger als körperliche Verteidigung ist Selbstbehauptung“, sagt sie. „Mit dem nötigen Selbstvertrauen lassen sich viele Situationen klären, bevor es gefährlich wird." Deshalb beginnt Gebbing die Stunde völlig körperlos: mit Rollenspielen. Die 28 Jahre alte Judith versucht die etwas ältere Birgit zu überzeugen, ihr das geliebte Fahrrad zu überlassen. „Nein“, sagt Birgit wieder und wieder, wird regelrecht laut. Judith weicht immer weiter zurück, gibt schließlich auf. Birgits „Nein“ lässt ihr keine Alternative.

Gebbing ist zufrieden. Die 49-Jährige ist Bundesfrauenreferentin des Deutschen Karate-Verbandes, einem Partner der bundesweiten Aktion. Ihr heutiges Schnupperangebot will sie auf Anfrage ausweiten. Karate, sagt sie, sei zwar zur körperlichen Selbstverteidigung geeignet, aber das allein reiche nicht aus: „Die meisten Belästigungen geschehen im sozialen Umfeld.“ Da komme es auf das richtige Maß an, denn einem Verwandten oder Kollegen gleich einen Tritt zu verpassen, sei nicht angemessen. „Frauen haben ein gutes Bauchgefühl, darauf sollten sie viel besser hören.“

Trotzdem üben die Frauen am Ende noch, einen Fremden im Notfall körperlich anzugreifen. Birgit hält ein Schlagkissen, Judith haut zu – geradeaus mit der geballten Faust. „Ihr müsst Euch vorstellen, wie es ist, wenn eine Nase bricht. Das ist ein ekliges Geräusch, und es spritzt jede Menge Blut.“ Die Trainerin will, dass Frauen keine Hemmungen haben, einen Täter zu verletzen. Frauen seien viel zu sehr darauf gedrillt, auf andere zu achten, sagt sie, „ihr müsst aber zuerst an eure eigene Gesundheit denken!“

Ähnlich wie beim Shirokuma e.V. geht es in Neukölln zur Sache. Beim EBJC wird sonst vor allem Ju-Jutsu unterrichtet, eine japanische Kampfkunst die zwar hauptsächlich auf Selbstverteidigungstechniken basiert, aber ähnlich wie Karate nicht immer „straßentauglich“ sei, sagt Annika Brückner. Zu ihrem Schnupperangebot in der Thomas-Morus-Oberschule ist die kleine Halle ist brechend voll. Kinder vergnügen sich auf einer großen Hüpfburg, die Eltern sehen ihnen bei Kaffee und Kuchen zu. Zwei Polizistinnen verteilen Handzettel mit Informationen zu Frauenprojekten, Beratungsstellen und Notdiensten, Frauenhäusern, das Gewaltschutzgesetz der Bundesregierung und vielem mehr – sowohl auf Deutsch, als auch auf Türkisch. „Es war mir wichtig, nicht nur Selbstverteidigung anzubieten“, sagt Brückner. Die 36-Jährige stellt in ihrem Kurs ebenfalls Rollenspiele und Alltagstipps im Vordergrund. Eine der rund 15 Teilnehmerinnen ist eine Kollegin der Kursleiterin – beide treiben für das Finanzamt nicht gezahlte Steuern und öffentliche Gebühren ein, wobei ihnen schon manchmal etwas mulmig zumute sei. „Es kommt vor, dass zwei Frauen allein in die Wohnung eines Schuldners gehen“, sagt Gabi. Die 52-Jährige fühlt sich schon etwas sicherer durch den Einführungskurs in Selbstverteidigung.

Brückner weist aber auch darauf hin, dass eine Stunde als Grundlage zur Verteidigung nicht ausreiche. Deshalb bietet sie nun regelmäßig einen Kurs im Mädchensportzentrum „Wilde Hütte“ an, beim EBJC wird es ein weiteres Angebot geben.

Aber auch der regelmäßige Besuch eines Kampfsportkurses fördert das Selbstvertrauen, das beschreiben alle Kursteilnehmerinnen. Judith macht seit drei Jahren Karate und hat seitdem viel weniger Angst: „Man fühlt sich einfach sicherer, wenn man weiß, was im Erstfall zu tun ist.“ Das weiß auch die Trainerin. „Täter suchen Opfer“, sagt Marlis Gebbing. „Wer genügend Selbstvertrauen hat, wird oft gar nicht erst angegriffen.“

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