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Der Star und sein Chef. Gareth Bale (l.) und Coleman sind die prägenden Figuren im Team der Waliser.

© imago/BPI

Wales bei der EM 2016: Die Vision, die Realität wurde

Nach dem Suizid von Trainer Gary Speed 2011 stand Wales unter Schock. Nachfolger Chris Coleman hat Speeds Werk vollendet.

Als Chris Coleman im Januar 2012 das Amt des walisischen Nationaltrainers übernahm, war Fußball dort nicht die schönste Nebensache der Welt, sondern einfach nur Nebensache. Drei Monate früher hatte sich Colemans Vorgänger, sein guter Freund Gary Speed, das Leben genommen.

Das erste große Turnier für Wales seit 58 Jahren

Wenn die Waliser am Samstagabend bei der Europameisterschaft gegen die Slowakei in Bordeaux zum ersten Mal seit 1958 wieder bei einem großen Turnier auflaufen, werden sie immer noch im Schatten von Speeds Tod stehen. Speed wurde auf der ganzen Insel geliebt. Eine Legende bei Leeds United, ein Fanliebling in Bolton, Sheffield und Newcastle. Ein Urgestein der walisischen Nationalmannschaft und einer der wahren Gentlemen des britischen Fußballs.

In seinen nur neun Monaten als Nationaltrainer hatte Speed die Grundsteine für eine vielversprechende neue Generation des walisischen Fußballs gelegt. Den jungen Aaron Ramsey hatte er zum Kapitän gemacht. Und in den Worten des damals noch jungen Gareth Bales hat er „unsere ganze Mentalität, unsere ganze Spielweise völlig verändert“.

Unter Speed stieg Wales vom 117. Platz in der Fifa-Weltrangliste bis zum 45. Rang auf. Der ewigen Karnevalstruppe stand eine goldene Ära bevor. „Wir werden dafür alles geben, dass wir sein Werk weiterführen“, sagte Bale kurz nach Speeds Tod.

Der ganze Kader war von Speeds Tod geschockt

Das war vor allem aber Colemans Aufgabe. Eine Nation war geschockt. Ein junges, talentiertes Team stand psychologisch auf der Kippe. „Speed hatte es glauben lassen, dass wir etwas Besonderes schaffen können“, sagte Ramsey. „Der ganzer Kader war von seinem Tod getroffen. Wir waren verloren.“

Coleman, der wegen seiner Vergangenheit bei Swansea City für viele aus Cardiff stammende Wales-Fans eine Hassfigur war, sollte sich um den fußballerischen und seelischen Wiederaufbau kümmern. „Dass wir Gary verloren haben, werden wir nie aufarbeiten“, sagte Coleman bei seinem Amtsantritt 2012. „Wir können nur versuchen, Spiele zu gewinnen und die Leute wieder zum Lächeln zu bringen.“

Zunächst gelang ihm das nicht. Als erster walisischer Nationaltrainer der Geschichte verlor Coleman seine ersten fünf Spiele. Nach dem peinlichen 1:6 gegen Serbien, war er kurz davor, hinzuschmeißen. Aber er machte weiter. Er nahm dem überforderten Ramsey die Kapitänsbinde weg und gab sie an Swanseas Abwehrchef Ashley Williams. Neben dem glänzenden Duo Bale und Ramsey setzte er auch auf Zweitligaroutiniers wie Chris Gunter und Hal Robson-Kanu. Dass sich Bale inzwischen zum Weltstar entwickelte, war natürlich auch ein Segen.

Nicht mehr nur der ewige Versager

Wales’ neue Ära, die Speed eingeläutet hat, wurde unter Coleman zu Realität. In der EM-Qualifikation fingen sie an, nicht mehr wie Wales zu spielen. Nicht wie die ewigen Versager, nicht wie die Rugby-Nation, die mit dem Fußball nie wirklich klarkommen konnte. Vor einem Jahr explodierte dann die Stimmung in dem kleinen Land, wie sonst nur bei Rugby-Spielen. Wales begrüßte Belgien in Cardiff und gewann 1:0. Bale schoss das einzige Tor, die EM-Teilnahme war so gut wie gesichert.

„Die großen Turniere haben wir schon öfter knapp verpasst“, sagte Ramsey. „Diese Mannschaft hat einen außergewöhnlichen Job gemacht. Das liegt an dem Teamgeist, den Chris Coleman erschaffen hat.“ Und es liegt an Gary Speed, das betonen alle Spieler immer wieder. Sein Vermächtnis ist es auch, dass der walisische Fußball am Samstag seine größte Stunde seit Jahrzehnten genießen darf.

Wer weiß? Vielleicht wird sie noch in die K.-o.-Runde kommen, diese komische Mannschaft, die zwischen Zweitligisten und Galacticos schwankt, zwischen Trauer und Ekstase. Eines ist für Wales aber sicher: In diesem Sommer ist der Fußball wieder zur schönsten Nebensache der Welt geworden.

Wales gegen Slowakei, Samstag, 11.06.2016, 18 Uhr (ZDF). Einen Spielplan der EM 2016 finden Sie hier als kostenlosen Download!

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