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Rauchzeichen. Ein Wales-Fan lässt es mächtig dampfen.

© AFP/Kilic

Wales und Island bei der EM 2016: Das Abenteuer ihres Lebens

Wann, wenn nicht jetzt? Außenseiter wie Wales und Island inhalieren jeden Moment dieser EM.

Ashley Drake war heiser, doch er konnte nicht aufhören zu erzählen. Dieser Abend in Toulouse war keiner, um auf die eigene Stimme Rücksicht zu nehmen. Dieser Abend war geschichtsträchtig.

Wales, sein geliebtes Team, hatte sich für das Achtelfinale der EM qualifiziert. Es war so außergewöhnlich, dass erwachsene Männer auf der Tribüne hemmungslos losheulten. Drake saß nach dem Spiel auf einem klapprigen Gartenstuhl vor einer kleinen Burgerbraterei. Und er hätte wohl nirgendwo lieber sein wollen.

"Niemand hat uns ernst genommen"

Er strich sich immer wieder über das rote T-Shirt mit den gelben und grünen Streifen, als wären es Schärpen von höchsten Würden. Auch der Fischerhut auf seinem Kopf trug diese Farben. Sie erinnerten an jene walisische Mannschaft, die sich 1958 als letzte des Landes für ein großes Turnier qualifiziert hatte. „Bei der Auslosung haben alle gesagt: Oh, Wales ist in der England-Gruppe. Und nicht: Beide sind in Gruppe B. Niemand hat uns ernst genommen.“

Ein zufriedenes Lächeln beendete jeden seiner Sätze, als hätte er eine Geschichte am Lagerfeuer erzählt. Der 56-Jährige arbeitet als Verleger in Cardiff. Seine Wangen glühten, die kleinen Augen funkelten, als er die Geschichte der Mannschaft ausbreitete. Wie der Verband vor Jahren einfach einen Angestellten in alle Käffer Englands schickte, um Spieler zu finden. In Reading, irgendwo vor London, fragte dieser herum, ob es einen Waliser im Verein gebe.

Die Leute lachten und meinten, wenn überhaupt, dann diesen Stürmer Hal Robson-Kanu. Und tatsächlich: Er hatte eine walisische Großmutter. Bei der EM traf Robson-Kanu im ersten Gruppenspiel für Wales. Ashley Williams, den Kapitän, fanden sie durch Zufall in Stockport, auch so einem Nest in England, sie bequatschten ihn auf dem Parkplatz.

Das beste Spiel ist Zusammenspiel. Es ist das walisische Motto

„Diese Jungs wurden zusammengewürfelt, aber sie spielen seit Jahren nebeneinander in einem Team. Sie kennen den anderen besser als sich selbst“, sagte Drake. Dann tippte er auf das Wappen auf seinem Shirt und den Spruch darunter: „Gorau Chwarae Cyd Chwarae“. Das beste Spiel ist Zusammenspiel. Es ist das walisische Motto. Aber auch dieser EM-Vorrunde.

Leute wie Drake sitzen überall in Frankreich, sie kommen nicht nur aus Wales, sondern aus Island oder Ungarn. Seit Jahren haben die kleinen Nationen auf diese Sommertage in Frankreich hingearbeitet. Die Vorrunde ist für sie keine lästige Pflichtaufgabe, das Turnier keine „Generalprobe“ für die WM 2018, wie Bundestrainer Joachim Löw mal bemerkte. Das hier, das ist der allergrößte Auftritt.

Vor einigen Jahren noch drehte er Zombiefilme, jetzt ist er Islands Torwart

Hannes Halldorsson stand in den Stadionkatakomben von Saint-Étienne, er stützte sein Bein auf den Rollkoffer vor ihm. Der Torwart der Isländer hatte gerade mit seinen Paraden im ersten Gruppenspiel das Unentschieden gegen Portugal, gegen Cristiano Ronaldo und die anderen Stars, gerettet. Nicht schlecht für jemanden, der vor einigen Jahren noch sein Geld mit dem Dreh von Zombiefilmen verdient hatte. Die Portugiesen schlenderten vorbei, manche trugen Brillies, goldene Pailletten an ihren Rucksäcken, silbern glänzende Kopfhörer. Halldorsson und die Isländer trugen nur Trainingsanzug.

Das Erste, worüber er sprechen wollte, war nicht das Spiel. Halldorsson redete über die vergangenen Monate, seine schwere Verletzung. Er hatte sich die Schulter ausgekugelt, für einen Torwart kann es nicht schlimmer kommen. „Für mich war es eine lange Reise. Meine Familie hat sehr viele Opfer gebracht, damit ich hier sein kann.“ Halldorsson hatte einen Verein in Norwegen gefunden, bei dem er Spielpraxis bekommen konnte. Er hatte allein im Hotel gelebt, seine Familie in Island. Das klingt nach kargem Leben – und der Name seines Klubs räumt auch jeden Glamourverdacht von vornherein aus: FK Bodø/Glimt.

Doch ohne Glimt wäre er nicht bei der EM. Halldorsson wurde sensationell Zweiter mit Island, vor Portugal, vor Österreich. Als er in Saint-Étienne zum Bus ging, schob er den kleinen Rollkoffer vor sich her. Die Spieler trugen ihre eigene Ausrüstung in den Bus.

Ein Satz von ihm wirkte noch nach. Er steht ebenso für die Waliser und die anderen Sensationen dieser EM. Halldorsson sagte: „Diese EM ist das Abenteuer meines Lebens.“

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