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Sport: Wenn das Auto brennt

Von Thomas Seibert Istanbul. Nach dem Sieg ihrer Mannschaft über Japan sehen manche türkische Fußballfans keinen Grund mehr zur Bescheidenheit.

Von Thomas Seibert

Istanbul. Nach dem Sieg ihrer Mannschaft über Japan sehen manche türkische Fußballfans keinen Grund mehr zur Bescheidenheit. „Wir kommen ins Finale, und zwar spielen wir da gegen Deutschland“, sagte ein Istanbuler Gemüsehändler am Dienstagmittag. Die türkische Mannschaft hatte kurz zuvor Japan besiegt, zum ersten Mal in der Fußballgeschichte des Landes das Viertelfinale einer Weltmeisterschaft erreicht und ihren Landsleuten einen Feiertag beschert. Kaum war in Japan der Abpfiff verhallt, strömten schon mehrere tausend Fans zum zentralen Taksim-Platz in Istanbul, während sich eine ebenso große Menge auf dem Kizilay-Platz in der Hauptstadt Ankara versammelte. Überall wehten die roten Fahnen mit dem weißen Halbmond und dem Stern, überall hupten die Autos wie wild, überall tanzten und sangen die Menschen auf den Straßen – die Krisen in Politik und Wirtschaft der Türkei waren zumindest für einige Stunden vergessen.

Das Alltagsleben im Land kam zum Stillstand. Fernsehsender unterbrachen ihr Programm, um die Nachricht des Tages zu bringen und immer wieder das Siegtor der türkischen Mannschaft zu zeigen. In den Flugzeugen der staatlichen Fluggesellschaft Turkish Airlines gaben die Piloten Spielstand und Endergebnis durch. Am Boden brachten die feiernden Fans teilweise den Straßenverkehr zum Erliegen. Händler machten gute Geschäfte mit Fahnen, Trikots und Mützen in den Nationalfarben. Selbst die Istanbuler Nahverkehrsbusse wurden mit kleinen Fähnchen geschmückt.

Viele Türken schossen auch der Tradition folgend mit Böllern und scharfer Munition in die Luft. Was nicht überall ohne Folgen blieb: In der nordtürkischen Stadt Bafra wurde ein Teenager von einer Kugel getroffen und verletzt. Auch anderswo schlugen die Fans beim Feiern über die Stränge. In Izmir an der türkischen Westküste übergoss ein Mann vor lauter Freude über den Sieg sein altes Auto – Baujahr 1971 – mit Benzin und zündete den Wagen an. Die Polizei schritt ein und nahm den übereifrigen Fan fest.

Nachdenklichere Zeitgenossen mussten unterdessen zugeben, dass ein Mann in den vergangenen Wochen möglicherweise zu Unrecht scharf kritisiert worden ist: Nationaltrainer Senol Günes. Noch nach dem Einzug ins Achtelfinale war bei vielen türkischen Fußballfans nur Abfälliges über den melancholisch wirkenden Mann von der Schwarzmeerküste zu hören gewesen. Doch der historische Sieg über Japan nötigt den Türken nun Respekt für den ungeliebten Trainer ab. „Die Taktik heute war besser“, sagte ein Polizist in Istanbul, der das Japan-Spiel zusammen mit seinen Kollegen auf der Wache verfolgt hatte. Sogar für den glücklosen und in der Öffentlichkeit ebenfalls scharf attackierten Stürmerstar Hakan Sükür, der im Spiel gegen Japan verbissen kämpfte, hatte der Beamte plötzlich ein gutes Wort übrig: „Wenn die Leistung von Hakan Sükür endlich explodiert, dann ist alles in Ordnung." Aber was heißt das, „alles in Ordnung"? Noch vor wenigen Wochen wären die meisten türkischen Fußballfans mit dem Erreichen des Viertelfinales bei der Weltmeisterschaft mehr als zufrieden gewesen. Jetzt aber wollen sie mehr, wenn auch viele mit dem Traum der Final-Teilnahme so schüchtern umgehen wie ein Kind mit einer bisher verbotenen Süßigkeit. „Mein Favorit heißt Brasilien“, sagte der Fußball-Experte Halit Kivanc nach dem Japan-Spiel im türkischen Fernsehen. „Aber nach dem heutigen Spiel - wer weiß."

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