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Schirm zum Glück? In Wettbüros informieren sich die Zocker über Quoten.

© ddp

Wettbüros: Der letzte Goldesel

Sportwetten dürfte es bald auch offiziell im Internet geben. Bedeutet dies das Aus für Wettbüros an der Ecke?

Von Maris Hubschmid

Berlin - An einem Dienstagnachmittag um 13.15 Uhr bewahrheiten sich Jochen Dietrichs schlimmste Befürchtungen. „Da kackt der doch tatsächlich ab“, brummt der Mann mit dem grauen Schnurrbart laut, während er mit der Faust so kräftig auf die Tischplatte haut, dass seine Kaffeetasse gefährlich nah an den Abgrund rückt. Dietrichs Ärger gilt nicht dem Hund mit der Startnummer sieben, der soeben am Streckenrand in Nottingham vor zahlreichen Zuschauern sein Geschäft verrichtet hat. Sondern einem dunkelbraunen Hengst im Pariser Vorort Vincennes, der auf einem Fernseher zwei Reihen höher zu sehen ist. Kaum sei das Rennen eröffnet gewesen, da habe er schon so ein Gefühl im Magen gehabt, dass der Favorit es heute doch nicht machen werde, sagt der Frührentner. „Dit war’s, Kinners, ick mach’ nich mehr. Sparkasse is pleite“.

Sieben bis acht Milliarden Euro jährlich, so schätzen Experten, werden heutzutage in Deutschland mit Sportwetten umgesetzt. Knapp 50 Prozent davon trotz aller Digitalisierung noch immer in Wettbüros, in den Annahmestellen der staatlichen Wettunternehmen, privaten Einrichtungen oder Hinterzimmern. Ein Grund dafür: Noch dürfen in Deutschland offiziell keine Online-Wetten angeboten werden. Das Geld, das im Internet umgesetzt wird, fließt in illegale Anbieter oder ausländische Unternehmen wie den österreichischen Wettkonzern Bwin. In diesem Jahr aber läuft der bestehende Glücksspielvertrag aus. Es sieht so aus, als ob das Internetverbot aufgehoben wird. Viele lokale Anbieter fürchten, dass sie im Zeitalter eines schnellen, lukrativen Internetgeschäfts bald ausgedient haben. Sind deutsche Wettbüros die letzten ihrer Art?

Die Leute bauen auf ihre Kenntnisse

Besonders verheißungsvoll sieht er nicht aus, der Laden, in dem Friedrichshains Wettbegeisterte dem Glück zu begegnen hoffen. Von den Schildern blättert die Farbe, im Schaufenster steht ein angegilbter Plüsch-Schaukelesel mit zerknitterter Schleife am Schwanz. Die einst weißen Faden-Gardinen hinter den Klassenzimmerpflanzen weisen eine beachtliche Menge an Unregelmäßigkeiten auf, geben somit hier und da den Blick frei auf das, was hinter der Scheibe passiert. Mehr als ein Dutzend Männer sitzen im Wettbüro „Goldesel“ an der Landsberger Allee bei gedämpftem Licht vor 31 Bildschirmen. Sie trinken Kaffee oder Bier für einen Euro, und seit man in den Räumen nicht mehr rauchen darf, lutschen sie Kräuterbonbons. Sie studieren Ergebnisbögen, machen Notizen, dann Kreuzchen auf dem Wettschein. Starren geradeaus und ersehnen den Gewinn, der ihr Leben verändert.

„Das hier ist nicht so, wie es draußen gerne dargestellt wird“, sagt Mitarbeiterin Jane, während sie Cappuccino und eingeschweißte Kekse serviert. Die blondierten Haare hat sie zu einem lockeren Pferdeschwanz gebunden, sie hat stark getuschte Wimpern und ein warmes Lächeln, das dazu einlädt, ihr sämtliche Sorgen anzuvertrauen. „Mein Nachname tut nicht zur Sache“, sagt sie, und dass sie sehr wohl wisse, dass Spielsucht Menschen zu Grunde richte. Aber Sportwetten, das habe einen ganz eigenen Charakter: Jeder hier glaube zumindest, Ahnung zu haben. Die Leute kommen nicht nur, weil sie träumen, reich zu werden. Sondern weil sie ihr Einschätzungsvermögen unter Beweis stellen möchten, ihre Kräfte messen.

Unter Gleichgesinnten sein

„Janz jenau“, sagt Dietrich, Sport sei sein Revier. Und dass er jetzt verloren habe: Typisch Vorführeffekt. Wegen des Sportguckens komme er her, er sehe sich prinzipiell alles an, „quer Beet durch sämtliche Sportarten“. Zwei Minuten Fußmarsch entfernt befindet sich die Radsportarena Velodrom, in der vor wenigen Wochen das Berliner Sechstagerennen ausgetragen wurde. Ob er mal dagewesen sei? „Nein“, antwortet Dietrich. Auf einer der Trabrennbahnen? „Auch nicht.“

Der Mann neben Jochen Dietrich heißt Gert Seckow. Er selber schätzt sich ein als „jemand, der gefährdet ist: Zuhause am PC würde ich vielleicht nochmal nachsetzen, zwei, drei Klicks zuviel machen.“ Hier gibt die Runde dem Verlierer nach seiner Niederlage lachend ein Bier aus („aber nur ein Kleines, der Junge ist im Dienst“) und spätestens, wenn ein anderer aufstöhnt und hinschmeißt, lacht er auch wieder. Das ist gut so, findet Seckow, man nehme sich und das Spiel nicht so ernst. „Soviel besser als zuhause rumsitzen.“ Zuhause herum säße er ansonsten, weil zum Jahresende wieder einmal ein Zeitarbeitsvertrag abgelaufen ist.

Die Gefahr, sich in seinem Unglück zu verrennen, ist auch deshalb kleiner, weil die Ereignisse weniger schnell auf einander folgen: Anders als zum Beispiel am Automaten kann nicht ewig „noch eine letzte Münze“ hinterher geworfen werden. Die Gesamtzahl der Spiele und Rennen ist festgelegt, dazwischen bleibt meist genug Zeit, sich wieder „runterzufahren“, wie Jane sagt. Gelegentlich schiebt sie einen Schein auch schon mal freundlich, aber bestimmt zurück mit den Worten: „Lass gut sein, Junge. Iss lieber noch ne Wurst.“

Der Ruf eilt voraus

Wettbüros gelten gemeinhin als unseriös, verrucht. Und Seckow kennt sie, diese seelenlosen Spelunken, in denen die Dichte an Verzweiflung im Raum kaum Luft zum Atmen lässt. „Kreuzberg und Neukölln sind voll davon.“ Der Goldesel sei anders, sagt Seckow, hier offenbare sich die herzliche Seite. Wettbüros haben einen Geselligkeitsfaktor – man ist unter Gleichgesinnten.

Auch, weil Fußball hier fast Randsportart ist, ist der aktuelle Wettskandal im Goldesel kein Thema gewesen. Der größten Beliebtheit erfreuen sich die Sportarten, die Wochentags und tagsüber stattfinden – dann, wenn im Fernsehen nur schlechte Talkshows laufen und es anderswo so trostlos ist. Wenn es dunkel wird auf der Landsberger Allee, geht der Blick der Stammgäste immer häufiger zur Uhr. Die meisten bleiben bis zum letzten Pferderennen, spätestens um 18 Uhr sind sie weg. Dann kommen „die anderen“, wie sie sagen, diejenigen, die tagsüber „zu tun“ haben. Aber nicht deswegen gingen sie, sondern weil jeder irgendwann auch mal seine Angelegenheiten regeln müsse, schlafen und so weiter.

An der Wand ist mit Tesafilm die Kopie eines Wettscheins befestigt, auf dem einem der Gewinn von über 11 000 Mark bescheinigt wird. Das hat keiner der am Tisch sitzenden miterlebt, Seckow hat einmal 300 Euro gewonnen. Attraktivere Quoten wird es vermutlich bald im Internet geben. Reizt sie das? Nee, reizt sie nicht, da sind sich alle Anwesenden einig. „Glück ist das einzige, das sich verdoppelt, wenn man es teilt“, sagt Seckow, und klopft Dietrich auf die Schulter.

Wenn der Goldesel am nächsten Tag um 13 Uhr seine Türen öffnet, werden sie deswegen wieder davor stehen. Und darum, glaubt auch Mitarbeiterin Jane, dass das Internet dem Goldesel keine echte Konkurrenz machen wird: „Im Goldesel ist man geborgen“, sagt sie. Im World Wide Web hingegen nicht.

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