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Wie eine Schachlegende eine Weltmeisterschaft verfolgt: „Brillant gespielt, wirklich brillant“

Jeden Morgen studierte Viktor Kortschnoi 2005 die WM-Partien aus San Luis, als wären sie ein Lebenselixier. Er hat allen Weltmeistern nach dem Zweiten Weltkrieg gegenübergesessen, Helden der Schachgeschichte wie Michail Botwinnik, Bobby Fischer oder Garry Kasparow.

Zweimal, 1978 und 1981, griff Viktor Kortschnoi selbst nach dem höchsten Titel, scheiterte aber an Anatoli Karpow. Es war die Fortsetzung des Kalten Krieges auf 64 Feldern: Kortschnoi, der Sowjet-Flüchtling, gegen Karpow, den Breschnew-Liebling. Seit 1977 lebt Kortschnoi in der Schweiz, von wo er zurzeit das WM-Turnier in Argentinien verfolgt. Trotz seiner 74 Jahre spielt er voller Leidenschaft und auf unbegreiflich hohem Niveau, er zählt immer noch zu den Top 100 der Welt. Helmut Pfleger, Großmeister aus München, nennt Kortschnoi ehrfürchtig einen Wunder-Opa.

Fürchten muss man manchmal auch Kortschnois Urteile. Die Ungarin Judit Polgar schmähte er einmal als Kaffeehausspielerin. Mittlerweile hört sich das anders an. Als er zu Hause in Wohlen Polgars jüngsten Opferwirbel gegen Rustam Kasimdschanow nachgespielt hatte, geriet er ins Schwärmen. „Sie hat brillant gespielt, wirklich brillant, man konnte kaum einen ihrer Züge vorausahnen.“

Auch seine WM-Prognose hat Kortschnoi korrigiert. Vor Turnierbeginn hatte er auf Peter Leko als neuen Weltmeister getippt. Nach dessen kraftlosem Start war ihm klar, dass Leko es nicht wird. „Ich bin für Viswanathan Anand“, sagte er nach drei Runden. Jetzt scheint auch das überholt, weil ein anderer das Turnier seines Lebens spielt: Wesselin Topalow. In der sechsten Runde bezwang der 30-jährige Bulgare auch Judit Polgar und ist dem Inder Anand um zwei Punkte enteilt. 5,5 Punkte aus sechs Partien – eine Leistung, die bei einem Turnier dieser Qualität fast beispiellos ist. Sie erinnert an die besten Zeiten Fischers oder Kasparows. „Wie stark Anand ist, wussten wir schon immer. Auch Topalow hat manchmal brillant gespielt, er ist in den letzten beiden Jahren offensichtlich noch stärker geworden“, sagt Kortschnoi.

Schwer vorstellbar, dass Topalow noch einzuholen ist, zumal er in den verbleibenden acht Partien noch fünfmal den Vorteil der weißen Steine besitzt. Für Kortschnoi wäre er ein würdiger Weltmeister, weil der Weltschachbund Fide seit langem wieder einmal eine würdige WM auf die Beine gestellt habe. Das Turnier sei eine Reminiszenz an jenes in Moskau und Den Haag 1948, wo nach dem Tod Alexander Aljechins ein neuer Champion ermittelt wurde. „Damals konnte man sagen: Der alte Weltmeister ist tot. Heute muss man sagen: Der Weltmeister lebt, er heißt Wladimir Kramnik.“ Für Kortschnoi hat der Russe Kramnik einen ebenso großen Anspruch auf den Titel, obwohl dieser in San Luis nicht mitspielen wollte, in letzter Zeit schwächelte und ist nur noch Siebter der Weltrangliste. Der Altmeister fordert eine Titelvereinigung nach dem Turnier. Für ihn gelten die gleichen ehernen Gesetze wie vor und nach 1948: Neuer Weltmeister könne nur werden, wer den alten besiegt. „Man hat schon vergessen, wen Kramnik eigentlich geschlagen hat.“

Kramnik stürzte vor fünf Jahren Kasparow. Er zermürbte ihn vor allem mit einer überraschenden Eröffnung, der Berliner Verteidigung. Topalow nahm sich daran ein Beispiel, indem er gegen Polgar die Berliner Verteidigung wählte und den Angriffsschwung seiner Gegnerin erstickte.

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