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Sport: Wie neugeboren

Jan Ullrich ist jetzt Vater – Lance Armstrong kann ihm keine Angst mehr einjagen

Paris. Wenn Glückseligkeit Beine macht, dann wird Jan Ullrich eine tolle Tour de France fahren. Seit der Geburt seiner Tochter Sarah Maria ist der Radstar ein anderer Mensch. Wer im vornehmen Chateau de Sancy, der Unterkunft des Teams Bianchi vor den Toren von Paris, auf Jan Ullrich trifft, dem lacht ein Sommersprossengesicht mit einer Strahlkraft entgegen, die nach Meinung zahlreicher Experten nicht einmal nach Ullrichs Tour-Sieg 1997 zu beobachten war. Und so ist es auch nicht besonders überraschend, dass Ullrich „noch nie so glücklich wie jetzt“ ist.

Auch Rudy Pevenage, seit neun Jahren sein treuer Gefährte und Sportlicher Leiter, hat „Jan noch nie so zufrieden gesehen“. Die Geburt am Tag vor der Abreise nach Frankreich „war das Beste, was ihm passieren konnte“. Nun hat Jan Ullrich neue Motivation. „Man stelle sich vor“, sprach Pevenage von seiner großen Sorge, „Jan hätte während der ersten zehn Tour-Tage auf das Kind warten müssen. Er hätte sich nicht konzentrieren können und wäre vor lauter Nervosität nicht in Tritt gekommen.“ Nun aber erwartet Pevenage einen gelösten Jan Ullrich auf Frankreichs Straßen – und glaubt daran, dass Ullrich das private Glück auch sportlich motiviert.

Das idyllische Quartier in dem abgelegenen Dorf Sancy muss Jan Ullrich wie ein Geschenk der Tour-Organisatoren zur Entspannung vor den französischen Bergen vorkommen. In dem Schloss mit Reiterhof, riesiger Parkanlage und knirschenden Kieswegen erholen sich sonst wohlhabende Pariser übers Wochenende. Jan Ullrich konnte abseits der Großstadt mit dem Rest des Teams Bianchi auf einsamen Landstraßen trainieren.

Sie haben also alles noch rechtzeitig zum Tour-Start hinbekommen bei Bianchi. Technik und Logistik sind von bester Qualität – erstaunlich, nachdem Pevenage das Team erst im Mai gegründet hatte. Im Park steht wie ein Symbol für die Rundumerneuerung nach dem Chaos bei Coast der frisch lackierte schwarze Laster. Er ist rollende Werkstatt und Waschküche und trägt stolz das Wappen und den Namen des Firmengründers Edoardo Bianchi. Bis zum Mannschaftszeitfahren am Mittwoch werden auch die restlichen Spezialräder für alle neun Fahrer aus Bergamo angeliefert sein. Ullrichs Helfer hätten nach den Turbulenzen nun alle wieder Moral, sagte Pevenage, selbst der spanische Kokapitän Angel Casero sehe gut aus. „Die drei Kilo Übergewicht sind weg.“

Der Tour-Stress schon vor dem ersten Pedaltritt beim Prolog heute am Fuße des Eiffelturms kam dann früh genug. Am Freitag war es vorbei mit der Entspannung: zeitraubende und nervende Anfahrt durch den Dauerstau auf der Peripherie zur medizinischen Kontrolle, dann zur Pressekonferenz und zur Präsentation der 22 Mannschaften.

Unweit von Ullrichs Schloss logiert sein ehemaliges Team Telekom ähnlich komfortabel im Golf-Hotel Domaine de Montpichet. Den Ausfall von Cadel Evans und Paolo Savoldelli hat das Team weggesteckt. „Das Gute daran ist, dass jetzt nicht vier Kapitäne hier sitzen“, meinte Erik Zabel etwas zynisch. Die zwei an seiner Seite, Zeitfahrweltmeister Santiago Botero und Tour-de-Suisse-Sieger Alexander Winokurow, reichen Zabel aus. „Wir werden alles tun, Lance Armstrong anzugreifen“, nuschelte Winokurow auf Französisch und sagte auf die Nachfrage, was denn bitte eine angestrebte gute Platzierung sei: „Podium minimum.“

Das dritte deutsche Team, Gerolsteiner, hatte schon vor dem Start ziemliche Anlaufschwierigkeiten, sich gegen die Übermacht von Armstrong, Ullrich und Telekom bei den begrenzten Zeitabläufen zu präsentieren. Was auch mit der entlegenen Herberge zu tun hatte: Der Tour-Neuling ist im Massenquartier Holiday Inn am Flughafen Charles de Gaulle untergebracht. Ebenso bescheiden wie die Unterbringung sind die Ambitionen der Mannschaft, die nach vier Jahren Aufbauarbeit zum ersten Mal in Frankreich starten darf. Auf die Frage, was er von seinen Fahrern bei der Tour de France erwartet, antwortete Gerolsteiner-Teamchef Hans-Michael Holczer nur: „Ich erwarte gar nichts.“

Hartmut Scherzer

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