zum Hauptinhalt
Alter schützt vor Kreativität nicht. Juves Spiel sieht totale physische Hingabe und Systemtreue vor – nur der geniale Lenker Andrea Pirlo bekommt alle Freiheiten, um seine unberechenbaren Pässe zu spielen.

© AFP

Wiederkehr aus dem Schattenreich: Juventus Turin ist zurück in Europas Spitze

Neuer Trainer, andere Spielphilosophie und ein Altstar mit allen Freiheiten. Der italienische Rekordmeister Juventus Turin ist wieder eine Adresse im europäischen Fußball.

Wenn Andrea Pirlo an Celtic Glasgow denkt, dann fällt ihm Folgendes ein: „Bloß kein zweites Istanbul!“ So lautet die inständige Bitte des Regisseurs von Juventus Turin an seine Kollegen vor dem heutigen Achtelfinalrückspiel der Champions League. Zwar hat Juventus in Glasgow ein 3:0 vorgelegt. Aber Pirlo erinnert sich auch an das für ihn traumatische Champions-League-Finale 2005. 3:0 führte der AC Mailand damals am Bosporus gegen den FC Liverpool. Doch die Engländer glichen noch aus und holten im Elfmeterschießen die Trophäe.

„Celtic ist angeschlagen, aber es ist eine stolze Mannschaft“, warnt Pirlo also. „Sie wird Revanche suchen. Wir dürfen den Fuß nicht vom Gaspedal nehmen.“ Den Respekt, den der Spielmacher gegenüber dem Gegner äußert, darf man aber auch als Zeichen für die wiedergewonnene Größe des italienischen Rekordmeisters selbst werten. Nur große Mannschaften haben große Erinnerungen. Und auch wenn die Erinnerung von Pirlo nur eine aus Mailand zugekaufte ist, so ist sie durch dessen Person dennoch Bestandteil der Bewusstseinsprozesse der aktuellen Truppe.

Juventus Turin ist wieder eine Adresse im europäischen Fußball. Das lässt sich neben der sportlichen Bilanz in Champions League und Serie A (aktueller Meister, sechs Punkte Vorsprung vor Neapel) auch an Reaktionen der Gegner ablesen. Vor dem Spitzenspiel gegen Neapel am vergangenen Freitag etwa ließen viele Süditaliener ihre Kopiergeräte heiß laufen, um Tausende von A-3-Plakaten mit einer Todesanzeige von Juventus zu drucken. Nur richtig große Rivalen kommen für diese etwas zweifelhafte Ehrbezeugung in Frage. Zuletzt waren dies die Premier-League-Vereine Manchester City und FC Chelsea, die während der letzten Champions-League- Saison mit 2:1 und 3:1 besiegt wurden.

Juve hingegen holte ein 1:1 im Hexenkessel des San Paolo und hat auch im aktuellen britisch-italienischen Duell die Nase vorn. Trainer Antonio Conte ist seinerseits so hoch geschätzt auf der Insel, dass britische Medien Chelsea ein starkes Interesse nachsagten, ihn für die neue Spielzeit zu verpflichten. Chelseas Eigner Roman Abramowitsch dürfte in jedem Fall imponiert haben, wie die von Conte perfekt eingestellten Bianconeri den aktuellen Titelverteidiger beim 3:0 im November 2012 auseinander nahmen.

Der neue Trainer warf satte Stars wie del Piero aus dem Kader

Vorbei jedenfalls ist das hämische Mitleid, das den Klub nach dem Zwangsabstieg wegen des Manipulationsskandals 2006 und während der Stagnation nach dem Wiederaufstieg in Italien begleitete. In Mailand spielte da die Musik – mit dem Startrainer José Mourinho bei Inter, mit Ronaldinho, Pirlo und Zlatan Ibrahimovic beim AC Milan. Juventus hingegen verschliss Trainer und Spieler, eines der Opfer war der jetzige Wolfsburger Diego.

Besserung trat erst vor anderthalb Jahren mit der Verpflichtung Contes ein. Der frühere Juve-Kapitän warf die wenigen nach Zwangsabstieg verbliebenen und im Zuge des unmittelbaren Wiederaufstiegs satt gewordenen Altstars radikal aus dem Kader. Sein Image als knallharter Regent, unterstützt vom nicht weniger harten Klubpräsidenten Andrea Agnelli, wurde in jener Zeit geboren. Agnelli hatte den beliebtesten der alten Juve-Stars, Klub-Urgestein Alessandro Del Piero, mit wenig feinen Methoden zum Abschied genötigt und Conte so absolute Deutungsmacht in der Umkleidekabine verliehen.

Das machte sich bezahlt. Conte etablierte in der vergangenen Saison ein lauf- und passintensives Überwältigungsszenario. Es basiert auf totaler physischer und taktischer Hingabe von neun Feldspielern und absoluter Freiheit für den zuweilen genialen, in seiner Genialität aber immer mannschaftsdienlichen Pirlo.

Nur eines fehlt: ein Torjäger. Niemand hat in dieser Saison zweistellig getroffen. Aus dieser Not wurde aber auch eine Stärke. 13 Spieler steuerten die 54 Tore in der Serie A bei, sieben die 15 in der Champions League (darunter ein Eigentor). Juventus ist schwer ausrechenbar, weil neben Mittelfeld und Angriff auch Innenverteidiger wie Giorgio Chiellini und Leonardo Bonucci sowie Außenspieler wie Stephan Lichtsteiner und Martin Caceres treffen können. „Favoriten für die Champions League sind nicht wir, sondern Bayern, Real und Manchester“, stapelt Conte zwar tief. Aber bislang hat der Trainer – trotz monatelangem Bankverbots wegen einer Disqualifikation – die für den aktuellen Kader neue Doppelbelastung aus Champions League und Meisterschaft so gut dosiert, dass Juventus auf beiden Bühnen eine gute Figur abgibt.

Hinzu kommt das neue, klubeigene Juventus-Stadion, das Ende 2011 eröffnet wurde. Es generierte bisher etwa fünf Millionen Euro Mehreinnahmen und ist international eine noch uneroberte Festung. Nicht nur deswegen gilt: Juventus ist der Geheimfavorit dieser Champions League.

Zur Startseite