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Hielten in der DDR vom Fußballtraining ab: Die sagenhaften Bananen.

© dpa

Willmanns Kolumne: Bananenalarm

Während heutzutage bei Jugendspielen überehrgeizige Erziehungsberechtigte ihre Kinder in die Bundesliga schreien wollen, spielte Frank Willmann noch unter Ausschluss der Eltern. Eine Kindheits-Anekdote aus der DDR.

Als ich ein kleiner Thüringer Waldbauernbub war, säumte den Spielfeldrand noch keine Schar schnatternder Fußballeltern. Das hätten sich unsere Trainer nicht bieten lassen, diese dicken Männer mit Schnauzer und filterloser Kippe im Mundwinkel. Latte Macchiato war noch nicht erfunden. Außerdem verachteten Frauen das grobe Getue der Männer, die allesamt den Fußball für eine großartige Sache hielten. Die Männer liebten natürlich nur richtige Fußballer. Schnuphase, Dörner, Croy und Sammer hießen ihre Helden. Uns Bolzwichte nahmen sie gar nicht wahr.

Für die Jugendtrainer der 70er Jahre war Fußball eine bierernste Obliegenheit. Heilige Abstiegsdramen und freudvolle Aufstiege erlebten sie am liebsten schweigend an der Außenlinie. Manchmal zeigten sie ihre gelben und schiefen Zähne und taten so, als würden sie lachen. Sie hatten bestimmt eine Ahnung vom Fußball, auch wenn sie im Wesentlichen beim Training zusahen, wie wir mit heraushängender Lunge unsere Kreise über den Sportplatz zogen. Ein guter Fußballer muss auch ein guter Leichtathlet sein. Diese These wurde vom DTSB (Deutscher Turn und Sportbund) der DDR ausgeben. Dessen Trainingsmethodiker legten großen Wert auf Ausdauer. Egal ob Fußball oder Synchronschwimmen: viel war immer gut.

Wir rannten also im Kreis und zerwühlten die Schlackeplätze mit unseren Aluminiumstollen. Fußball war selbst unter diesen Umständen besser als Hausaufgaben erledigen oder im Club der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft stalinistische Heldengesänge zu erlernen. Nach dem Training ging ich gern in die Vereinskneipe. Um mir die Fotos einstiger Spieler anzuschauen, eine Bockwurst zu essen und diese mittels einer roten Brause runter zu spülen. Haben wir etwas anderes als Bockwurst in der Sowjetzone zu essen bekommen? Ich glaube nicht.

Micha aus der Assi-Familie

Micha war neun, wie wir alle. Und auf dem Höhepunkt seines fußballerischen Wirkens. Er war der beste Kicker unserer Mannschaft. Zu Hause warteten in der Dreizimmerwohnung sieben oder acht Brüder. Dazu eine Schwester. Und kein Vater. Es war nicht so genau aus ihm raus zu bekommen, wie viele Geschwister er nun wirklich hatte. Es schien ihm peinlich, er vermutete zu Recht, wir würden hinter seinem Rücken über seine Assi-Familie lästern. Das war gemein, aber so dachten wir eben. Er hatte zu viele Geschwister, da musste doch etwas nicht stimmen. Eigentlich waren sogenannte kinderreiche Familien ein Segen für die DDR. Neue NVA-Soldaten, Bauarbeiter und Schweißer, Menschenmaterial war immer gefragt. Felder mussten bestellt, Neubaublöcke gebaut werden. Jungs waren nützlicher, die bekamen keine dicken Bäuche und fehlten dann im Produktionsprozess. Doch selbst unsere Lehrer runzelten skeptisch die Stirn, wenn die Rede auf Michas Großfamilie kam. Sieben oder acht Jungs. Wenn Micha nicht dabei war, brüllten wir: Michas Alte hat ein Kind gekriegt, sie weiß bloß nicht von wem. Der Nachbar hat nen Schäferhund, vielleicht ist es von dem.

Ich durfte nie Michas Wohnung betreten. Obwohl wir gute Freunde waren, uns täglich entweder beim Training oder beim Bolzen auf der Wiese trafen. Wenn ich ihn abholte, was selten geschah, musste ich unten klingeln. Meist schaute eine missmutige Frau aus dem Fenster, die ich für seine Mutter hielt. Ich rief: Ist Micha da? Sie brummte etwas, spuckte aus und schloss das Fenster. Das mit dem Ausspucken fand ich gut, bei uns zu Hause waren Pantoffeln, Staubtuch und Beethoven: Vater, Sohn und Heiliger Geist. Wenn sie: mhhhhhhhhöö brummte, bedeutete das, Micha ist da und kommt gleich runter. Wenn sie rrrummpfff brummte, war es Zeit, sich vom Acker zu machen.

Meine Kindheit im Sozialismus verbrachte ich auf der Toilette

Jeder hatte in der DDR unheimlich viel zu tun. Da Mangelwirtschaft herrschte, gingen unsere Eltern regelmäßig in die Kaufhallen des Viertels, um eventuell die sagenhaften Bananen oder gar Apfelsinen zu Gesicht zu bekommen. Wir bekamen sehr selten diese herrlichen Errungenschaften des Kapitalismus in unsere hungrigen Mäuler gestopft. Der Schmerz in der linken Bauchhälfte war uns zur Gewohnheit geworden. Wir benutzen selbstverständlich keine Wärmflasche, um die Schmerzen zu lindern. Pflaumen, Pflaumen und nochmal Pflaumen. Meine Kindheit im Sozialismus verbrachte ich auf der Toilette. Wenigstens konnte man mit den Pflaumen gut auf Mädchen schießen. Mädchen waren eklig. Sie vermochten nicht mal Fußball zu spielen. Wenn man eine nicht zu matschige Pflaume mit der Pieke richtig traf, klatschte sie schmatzend auf dem Hintern eines der abscheulichen Mädchen.

Einmal kam Michas große Schwester Silke zum Training. Das passierte sonst nie, dass irgendwelche Familienmitglieder dort erschienen. Meine Eltern waren selbst bei den wichtigen Spielen nicht anwesend. Es genügte, wenn ich ihnen vom Spielausgang berichtete. Wir Knirpse hätten uns furchtbar für die Anwesenheit unserer Eltern geschämt. So wie sich nun Micha über die Trainingsanwesenheit seiner Schwester ärgerte. Micha tat mir leid. Ich litt still neben ihm auf dem Schlackeplatz, der unsere Knie immer so schön beschmutzte. Silke sagt zu Micha, er solle schnell mit in die Kaufhalle kommen. Bananenalarm.

Als sie ankamen, so berichtete mir Micha am nächsten Tag, waren die Bananen bereits ausverkauft. Trostlos schlief er ein, trostlos wachte er auf, es war immer dasselbe. Als er mir das sagte, hatte er den Mund voll Pflaumenfruchtfleisch und Pflaumensaft. Der Saft tropfte ihm über das Kinn auf seine Kleidung. Micha schaute an sich herunter und sagte, jetzt bekomme ich zu Hause Ärger. Dann setzten wir uns auf den Randstreifen der Straße.

Der Sammelband "Kassiber aus der Gummizelle" mit Frank Willmanns Tagesspiegel-Fußballkolumnen ist im Verlag Die Werkstatt erschienen und im Tagesspiegel-Shop erhältlich.

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