zum Hauptinhalt
In den Fußballstadien werden aus Sitzplätzen wieder Stehränge. Man wird ja mal träumen dürfen.

© pa/dpa

Willmanns Kolumne: Die Zukunft des Fußballs: Aus Sitzplätzen werden wieder Stehränge

Es ist der 8. Mai 2063. Der Freie Deutsche Fußball-Verband trägt das 25. Endspiel um die Echte Deutsche Fußballmeisterschaft auf. Unser Kolumnist Frank Willmann träumt ein bisschen, wie der Fußball der Zukunft aussehen könnte.

Achter Mai 2063. Neues Niedersachsenstadion Hannover. Die Fessellose Ballsportgemeinschaft Hansa Rostock spielt gegen den 1.Unabhängigen Hannoverschen Sportverein 96. Es ist das fünfundzwanzigste Endspiel um die Echte Deutsche Fußballmeisterschaft des Freien Deutschen Fußball-Verbands. Halb Hannover steht Kopf, die Menschen tanzen auf den Plätzen. Im Stadion jubeln 50.000 entflammte Zuschauer ihren innig geliebten Kickern zu. Das Neue Niedersachsenstadion Hannover verfügt über 45.000 Steh- und 5000 Sitzplätze. In einem abgetrennten Sicherheitsbereich werden vorm Spiel bengalische Feuer abgebrannt. Polizisten in Kampfmontur gibt es im Stadion nicht, die Fans verwalten die Sicherheitslage selbst, seit über zwanzig Jahren kam es zu keinen Krawallen mehr. Eine Karte kostet so viel wie ein Brot. Vip-Tribünen Fehlanzeige. Wer im Neuen Niedersachsenstadion Fußball guckt, steht nicht auf Häppchen, gereicht von wehrlosen Häschen im Hostessenkostüm. Die Spielergewerkschaft hat sich bereits vor Jahren mit den genossenschaftlich geführten Fußballclubs auf eine Lohngrenze geeinigt. Ein Spieler darf nicht mehr als den zehnfachen Lohn eines mittleren Angestellten verdienen. Auch Trainer und Vereinsangestellte erhalten für ihre Arbeit einen fairen Lohn. Neben vielen anderen Errungenschaften sind das Erfahrungswerte aus der Zeit des Zerfalls. Im Stadion fließt das Leichtbier in Strömen. Neben freudenspendenden Keksen steigern die gute alte Bratwurst und Gemüse vom Grill den Fußballgenuss.

Die Vorrunde der Freien Deutschen Meisterschaft wurde in mehreren regionalen Bundesligen ausgetragen. Nach einer Ausscheidungsrunde mit Hin- und Rückspiel kommt es 2063 erstmals zu einem rein norddeutschen Finale. Die Spiele werden im Freien Netz natürlich umsonst ausgestrahlt. Vorm Spiel verkündet die Chefin des Freien Fußballverbands Deutschland ein Grußwort an die homosexuellen Fußballer unter anderem in Saudi-Arabien und Russland, die ihre sexuelle Orientierung aus Todesfurcht noch immer nicht zu erkennen geben. "Hoch leben die Menschenrechte, der Saft für ein Leben in Brüderlichkeit und Freiheit!" Die Menge jubelt und Siegfried Beckenbauer spielt den Anstoßball zu seinem Zwillingsbruder Hagen. Die vom einstigen Deutschen Fußballhelden (der sich anno dazumal von einem russischen Großkonzern kaufen ließ) fleißig verstreuten Genie-Gene, zeitigen noch in der dritten Generation ihre wundersame Wirkung. Insgesamt siebenunddreißig Nachfahren des Kaisers verdrehen die Herzen und Hirne der Fußballfreunde. Auch bis nach Österreich und Sibirien entwickelte sich die Population. Wie durch Hexerei, möchte man meinen. Zwinker, zwinker, schnacksel schnacksel. Nein, wir wollen uns nicht mit unanständigen Details plagen, dafür ist nach wie vor die "Bild" zuständig, treuherzig in ihrer digitalen Hör- und Sehausgabe.

Neben dem Freien Deutschen Fußballverband existiert noch immer der Deutsche Fußball-Bund. Dieser gehört inzwischen vollständig den Konsorten der Großfinanz und führt seine eigene Abhängige Deutsche Meisterschaft durch. Morgen spielt zum fünfzigsten Mal in Folge der FC Bayern München gegen Borussia Dortmund in München um den Titel. Da sich seit vielen Jahren die Fanklientel komplett verabschiedet hat, ist die Münchener Finanzarena längst auf eine Zuschauerzahl von 1000 Viplinge herunter gebaut. Man kommt nicht so einfach in die Stadt hinein, die ausschließlich von Millionären bewohnt wird, und von einer riesigen Käseglocke, die bis zum Mond reicht, vorm Pöbel geschützt wird. Vorm Stadion patrouillieren Flugautos der Bundespolizei, es herrscht striktes Redeverbot. Im Stadion fließt Champagner in die Kehlen der glücklichen Deutschen, die sich während des Spiels mit Hummerzungen, Jungbullenaugenwimpern und Mückenrüsselenden verwöhnen. Das Spiel wird wie immer vom Bezahlsender des Stammes Nimm in die Wohnzimmer derjenigen Deutschen übertragen, die sich aus vernünftigen Gründen in ihre Sofas und Sessel implantieren ließen. Drecksarbeiten erledigen selbstredend Roboter.

50 Prozent der Deutschen arbeiten als Fernsprechberater und Fernsprechverkäufer. Das geht auch von der Homebase, alldieweil sich manche ausschließlich selbst beraten und bequatschen. Die Industrie hat die Spezies der Menschencouch sehr weit entwickelt. Nach Erreichen der Volljährigkeit darf jeder Deutsche entscheiden: Ob er weiterhin auf zwei Beinen durchs Leben marschieren möchte, oder als lebendige Couch künftig nur noch zwischen wechselnden Wohnzimmern seiner Wahl teleportiert wird. Überflüssige Körperteile und Organe werden entfernt, zwei neue Arme hinzugefügt, Fernbedienungen implantiert usw. Weitere Vorteile der Menschencouch: freier Zugang zu Fastfood und Mega-In-Getränken wie Fettsuppe und Fettsoße durch ein geschicktes Netz von Fernleitungen. Halber Preis auf tägliche Darmentleerung und Ganzkörperpflege Dienstag und Donnerstag. Dazu werden den männlichen Couchmenschen einmal pro Woche überflüssige Feuchtigkeiten abgepumpt. Bonus: Jägermeister free! Ungefähr die Hälfte der Deutschen existiert als Couch. Der Rest lebt fröhlich seine Neigungen auf zwei Beinen aus.

Diese schönen Neuerungen haben natürlich ihre Ursachen in der Vergangenheit. Ab dem Jahr 2013 erhöhten die gelackten Fußballverwerter zunehmend den Druck auf DFB und Vereine. Sie lockten mit listigen Gaben und wollten ALLES. Die Geldspirale erreichte ungeahnte Höhen. Lobbyisten aus Politik und Gesellschaft unterhöhlten das Kulturgut Fußball. Die großen Klubs hebelten sich aus dem deutschen Vereinsrecht. Kein Mitspracherecht mehr für Mitglieder. Die Sitzplätze wurden verboten, jugendliche Fans, Grantler, Abweichler und Stehplatzhelden aus dem Stadion expediert und durch zahlungskräftige Klientel ersetzt. In der Folge mutierten die einstigen Sehnsuchtstempel zu Einkaufsmeilen, wo jedes erdenkliche menschliche Bedürfnis vor, nach und während der Spiele befriedigt werden konnte. Bayern München machte den Vorreiter, es folgten Hannover 96 und Bayer Leverkusen. Die populären Ruhrpottvereine zierten sich noch eine Weile, um letztendlich mit dem Strom zu schwimmen. Die Distanz zwischen Normalbürgern und hübschen Fußballstars wurde immer größer, zumal kaum ein Mensch sich noch einen Stadionbesuch leisten konnte. Fußball fand nicht mehr statt.

Es dauerte einige Jahre, bis viele begriffen hatten, was von ihrem Fußball noch übrig war. Nun begannen findige Köpfe sich nach Alternativen umzusehen. Erst in den großen, später auch in den kleineren Städten. Eine Epidemie. Sie gründeten ihre Vereine neu. Gaben den Klubs echte demokratische Strukturen und Vereinsnamen, die leicht verändert an ihre alten Klubs gemahnten. Anfangs kickten die Gründerväter in den wundersamen Teams selbst. Doch es wurden schnell immer mehr Menschen, die auf den verkommenen Fußball keine Lust mehr hatten. Die Idee zog auch viele Fußballspieler an. Für die der reine Spaß am Spiel entscheidend war. Echte Begeisterung von den Rängen als höchster Lohn. Gute Trainer stellten sich ein. Als die Bewegung ihren Höhepunkt erreichte, gründeten die BürgerInnen, die Fans, die Spieler, die Trainer - ihren neuen, Freien Deutschen Fußballverband. Dann bauten sie die alten Stadien wieder auf.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false