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Gedemütigte Fußballfans: Keine Wurst schmeckt, das Bier wird schal.

© dpa

Willmanns Kolumne: Hertha, Bayern  usw. – Willkommen im Jammertal

Ob es Männer gibt, die nach dem Dauerversagen ihres Vereins im Leben keinen Sinn mehr sehen? Wie überlebt man die Demütigungen des Fandaseins? Unser Kolumnist Frank Willmann verarbeitet eine Saison, die ihm zugesetzt hat.

Meine Friseuse heißt Susi. Ich kann leider beim Haareschneiden nicht meine Ohren abnehmen. Ich weiß auch nicht genau, inwiefern die Kunst des Ohren-Abnehmens bei einigen Erdenbürgern höchste Vollkommenheit erfährt. Susi hat irgendwann mal aufgeschnappt, dass ich über Fußball schreibe.

Susi: „Watt`n so?“

Ich: „So das Drumherum“

Susi: „So Berichte?“

Ich: „Ne, Kolumne, äh…“

Susi: „Ah, so Männergequatsche über Hertha und so! Der doofe Preetz, klebt an seinem Stuhl.“

Ich überlegte lang, was ich darauf antworten sollte. Da ist einerseits der Wille, mit dem Fußballvolk ins Gespräch zu kommen. Andererseits kann die Rache des Volkes furchtbar sein, wenn man ihm die falschen Worte schenkt. Spätestens jetzt denke ich an die hehre Bürde des Fußballkolumnisten. Der Blinddarm des ewigen Kreislaufs von nachdemspielistvordemspiel. Das Gewissen des Fußballs. Richter und Dichter sein. Gerade als einige sehr gewählte und gewiss ziemlich aufgeblähte Worte meine Lippen verlassen wollten, sagte Susi „Macht 9 Euro 50“. Betreten zahlte ich. Als ich mich verabschiedete, legt sie mir voll Mitleid die Hand auf die Schulter und sagte: „Wird schon wieder.“

Welche Antwort kann man seiner Friseuse auf solche Worte geben? Ich blickte sie aus rotgeweinten Augen an und nickte. Dann drehte ich mich um und stolperte über ihren fiesen weißen Pudel. Das Vieh schnappte sofort nach meinen Beinen und biss zu. Liebgewonnenes, rotes Blut verließ meinen Körper und floss meine weißen Beine hinab. Weiß. Weiß wie das Weiß in den Clubfarben Herthas und Bayerns.

Beide Clubs locken mich nicht ausnehmend. Mein Club hat in Jena seine Torpfosten aufgestellt. Weiß ist eine seiner Farben. Und er hat in der verwichenen Saison kläglich versagt. Wie Hertha und Bayern. Ist das betrübende Versagen 2011/2012 vielleicht eine Frage der Farbe?

In meiner Fußballwelt ist wieder mal kein Rock´n-Roll-Freitag. Schalmeien quaken, Presslufthämmer der Angst halten mich auf Trab. Alles Aldi an Saale, Spree und Isar. In den Spelunken, den feinen Cafés, in den Fabriken, Chefetagen und Arbeitsämtern wird gegreint und gegrummelt. Ich fühle mit sämtlichen gedemütigten Fans, denn ich bin einer von ihnen. Uns schmeckt keine Wurst und unsere Biere werden schal. Wir springen nicht sogleich wie mancher Brasilianer vom Dach, wenn unsere Mannschaft versagt. Doch ich bin mir sicher, das Spiel zwischen Bayern und Chelsea verursachte auf deutscher Seite mehr Tote als Tore. Schon komisch, laut Selbstmordstatistik sterben die meisten Menschen zwischen März und Juni durch Suizid. Vielleicht sollten man sich mal die Notaufnahmen in Münchens Krankenhäusern vornehmen. Ob es Männer gibt, die nach dem Dauerversagen der Bayern in ihrem Leben keinen Sinn mehr sahen? Einmal zu viel Robben beim Elfmeterschießen? Dortmund. Dortmund. Chelsea.

Vielleicht hat Chelseas Sieg Leben gerettet.

Andererseits hat der Sieg Chelseas vielleicht Menschen in London davon abgehalten, aus dem Fenster zu springen? Die laufen noch immer munter durch den Park. Vielleicht ohne Job, vielleicht obdachlos und Alkoholiker. Doch ihr Chelsea hat die Krone Europas auf. Sie haben gewonnen.

Und dann die Einschaltquoten: Ein Fußballspiel ist das größte deutsche Gemeinschaftserlebnis. Nur wenn der Ball rollt, sitzt Deutschland vereint zusammen. Vor der Glotze.

Da haben wir es wieder, das chronische Yin und Yang des Fußballs.

Herthas Kicker haben laut eigener Aussage während der Spielunterbrechung in Düsseldorf Todesangst gespürt. Hatten sie Angst, beim Platzsturm der aufgestachelten Lemminge zerquetscht zu werden? Ist es ein suizidales Schauspiel, wenn hunderte Fans auf den Platz stürmen, um dort Liebe oder den Tod zu finden? Natürlich sind das nur Sinnbilder. Meist berührt der Fan den eigenen Spieler, den Torpfosten, den Elfmeterpunkt und glaubt, das Unendliche zu spüren.

Oder sind die Fans immer noch der Meinung, der Fußball würde ihnen gehören? Sind Platzsturm und Feuerwerk ein Wink des InsStadionGehers: Hallo, ich bin da, ich bezahle den ganzen Rummel, die irrwitzigen Spielergehälter, die wahnsinnig überhöhten Börsen unfähiger Manager, Spielerberater, die ganze feisten Mischpoke die abkassiert? Ist es die einzige Möglichkeit, die ihnen geblieben ist, um in der großen Geldmaschinerie auf sich aufmerksam zu machen?

Vielleicht gehört ein rechtschaffener Platzsturm nach besonderen Spielen einfach dazu? Ich habe in Jena mehrfach mit anderen Fans den Platz gestürmt. Bin ich jetzt ein Taliban des Fußballs?

Ich bin aus purer Freude auf den Platz gestürmt. Weil ich in diesem Moment Teil einer großen Familie war. Überwältigt von einem großen Sieg, vom Glück des Aufstiegs. Irgendwann hat das jeder Fußballfan mal erlebt. Ich z.B. 2005 in Neuruppin. Neuruppin blieb trotz  unseres Platzsturms ein fairer Verlierer. Sie bemühten im Anschluss kein Sportgericht.

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