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Was im Zug passiert, bleibt im Zug. Nicht so bei Frank Willmann.

© Imago

Willmanns Kolumne: Im Zug Amore gemacht

Vor allzu langer Zeit saß plötzlich Ulrike neben ihm im Zugabteil. Auf dem Weg nach Berlin. Auf dem Weg zum Fußball. Und bald erreichte unser Kolumnist mit seinen Küssen ihren weißen Hals. FSK ab 16.

Es gibt bestimmt irgendwo auf der Welt ein Seminar, das den Namen Wie werde ich Fußballfan trägt. Dort erfahren wissbegierige Studenten alles über das Leben der subproletarischen Massen, denen Fußball das einzige war, ist und sein wird. Braucht ein Dasein eine Berechtigung? Der Großteil der Menschheit existiert, ohne jemals das geringste Bedürfnis nach einer Berechtigung zu spüren. Sie leben, weil sie leben. Es kommt, wie es kommen muss. Es liegt nicht an mir, hinter diesen Worten etwas Armseliges oder Kleines zu vermuten. Glücklich jene, die das Leben zufrieden macht, die sich amüsieren und fröhlich sind.

Das Land war schmutzig. Die Felder, die Wälder, die Wege, die Häuser. Sogar die Kühe waren schmutzig. Und die Schafe. Ganz zu schweigen von den Hühnern. An den Pforten lagerten die Volkspolizisten mit ihren Schreckenshunden. Bereit uns zu jagen, für immer zu knechten. Das damalige menschliche Leben war eines der Schwierigsten überhaupt. Wir fürchteten uns außerhalb der Friedhöfe und bewunderten die leisen Leute. Sie setzten sich einfach in den Zug, zogen ein Butterbrot heraus und mümmelten die nächsten Stunden daran. Wir waren im Morgengrauen auf versteckten Pfaden zum Bahnhof geschlichen. Wir wollten von A nach B. Unseren Klub in Berlin nach vorn peitschen. An einem Ort, von dem es hieß, es würde dort jederzeit Bananen geben. Wir hatten in unserem Stadion periodischen Besuch von Menschen aus dieser Stadt. Eine große, eine verstörende Stadt direkt neben einem Stückchen außerterrestrischen Westen. Einmal bewarfen sie uns mit überreifen Orangen. Die kannten die meisten von uns nur aus dem Fernsehen. Unser Lieblingsobst war die aromatische Kohlrübe.

Männer und Frauen heirateten einander aus Mitleid oder Angst vor der Einsamkeit

Die Helden des Sozialismus lagen noch in ihren Betten und träumten vom Fortschritt durch Technik. Für uns bestand kein Zweifel darüber, dass  in der DDR viele Menschen auf rätselhafte Weise getötet wurden. Ihr Tod trat nicht sofort ein, sondern nach und nach. Sie starben ihr ganzes Leben lang. Obwohl ebenfalls kein Zweifel darüber bestand, dass das ein gewaltsamer Tod war. Wir sahen von früh bis spät solche Menschen, die langsam, bei vollem Bewusstsein das Wesen eines Toten annahmen. Mors ex nihilo. Männer und Frauen heirateten einander aus Mitleid oder Angst vor der Einsamkeit. Oder weil es einen günstigen Ehekredit gab. Sie setzten Kinder in die Welt, mit denen sie im Grunde nichts zu tun haben wollten. Nichts konnte uns davon abhalten, das zu sehen. Welche Komik, welche Tragik, welcher Selbstbetrug. Für uns war es eine Tatsache, dass die Mehrheit zehnmal dümmer sein musste als wir. Den Sozialismus in seinem Lauf, hält weder Ochs noch Esel auf. Selbst unsere Lehrer sagten den täglichen Unsinn. Während wir in unserem Kindersandkasten meinten, eine eigene Meinung zu haben, eine Richtung zu vertreten, uns für einen Gedanken einzusetzen. Wir nutzten nicht die Möglichkeiten, die sich uns boten. Wir zerstreuten die besten Einfälle unserer Eltern im Wind und kehrten alle guten Ratschläge in den Gully.

Neben dem Bahndamm ruhte ein Trupp Gleisarbeiter. Sie sahen uns aus müden Augen an. Die Luft war schlecht, geschwängert von verbrannter Braunkohle. Der Zug fuhr ein. Wir waren völlig erschöpft. Von innen öffnete sich die Tür eines Abteils und wir schlüpften von der falschen Seite hinein. Der Zug war voll betrunkener Soldaten. Das war unser Glück. So traute sich die in den Zügen stationierte Transportpolizei nicht, zu patrouillieren. Ulrike. Ich wollte nicht mit ihr schlafen. Höchstens ein bisschen. Sie saß im Abteil plötzlich neben mir. Blitzartig war alles licht. Ein Hauch von Frühling. Ich roch Mandeln, drei Haselnüsse für Aschenbrödel. Meine Teilnahme an der Welt nahm sekündlich ab. Die Menschen interessierten mich nicht mehr, die Natur interessierte mich nicht mehr. Laster? Das Glück bezahlt unsere Rechnungen erst, wenn wir von unserer Reise zurück kommen. Die einzige Lösung war klar. Immer unterwegs sein. Niemals den Fuß freiwillig über eine Schwelle setzen. Die unglaublichsten Dinge bewerkstelligen, es allen Unwissenden zeigen.

Unser Abteil war sehr voll, eigentlich gab es kaum einen freien Zentimeter. Trotzdem schaffte ich es irgendwie, meinen Arm um Ulrike zu schlagen. Ich drückte meine Lippen auf ihr blaugelbweißes Halstuch, schob es zur Seite und erreichte mit meinen Küssen ihren weißen Hals. Es brannte in mir, eine Feuersbrunst legte sich über mich. Die wahre Lust des Vergnügens, die allergrößte Lust der Lüste. Ulrike wachte auf. Sie sagte, ich solle leise sprechen. Und schob mir ihre Zungenspitze zwischen die Zähne. Wir glaubten an etwas, dass es nicht gab. Gunst und Dauer. Sie sagte, dass alles keinen Sinn hat ohne die Süßigkeit der verbotenen Früchte. Sie sagte, ich solle jeden Lärm vermeiden. Es waren Kleinigkeiten, die uns dabei halfen, die Dinge, welche unsere nichtsnutzigen Gehirne ausbaldowerten, in die Tat umzusetzen. Um die Aufmerksamkeit der Welt zu erlangen, muss man unsterblich werden. Es ist eigentlich ganz einfach.

Frank Willmann liest diesen Freitag, den 13. März 2015, in der Kultur- und Schankwirtschaft "Baiz" in Berlin-Prenzlauer Berg, Schönhauser Allee 26a, aus "Kassiber aus der Gummizelle". Die Lesung beginnt um 20 Uhr. Sie wird präsentiert vom Fanprojekt Berlin anlässlich seines Jubiläums: 25 Jahre vereinsunabhängige Fanarbeit. Der Sammelband "Kassiber aus der Gummizelle" mit Frank Willmanns Tagesspiegel-Fußballkolumnen ist im Verlag Die Werkstatt erschienen und im Tagesspiegel-Shop erhältlich.

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