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Rücktrittswelle im Fußball. Erst Maradona, dann Gascoigne und nun auch noch Willmann.

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Willmanns Kolumne: Wenn die Augen Ränder tragen

Unser Kolumnist Frank Willmann erwägt sein Karriereende - als Fußballer. Und wenn sich ein großer Kicker wie Willmann langsam vom Rasen macht, geht das nicht ohne Melancholie.

Mit grimmiger Entschlossenheit erlebe ich momentan das fünfte Viertel meiner Spielerlaufbahn. Vergangenen Montag trat mir beim Training mein Mitspieler Lutscher mörderisch auf die Hacken. Er wollte einen der letzten Sturmläufe meines Lebens stoppen. Lutscher heißt im realen Leben Luthardt. Beim Fußball scheint es nach wie vor nicht ohne Spitznamen zu gehen. Die pendeln bei meinem Freizeitteam kickender Schriftsteller zwischen Gedankenarmut und Einfältigkeit. Ist es der kleine Junge in uns? Die ewige Antriebskraft des Infantilismus?

Obgleich unsere Körper nach dem Training zwei Tage Ruhe brauchen, wanken wir fleißig jeden Montag gegen 20 Uhr über den frisch verlegten Kunstrasen an der Auguststraße. Die ersten Minuten sind Schmerz. Der löst sich wie durch Zauberhand. Er wandert durch die Hüfte und verpufft an unseren Hinterteilen, einfach so. Meine Eltern halten mich für geisteskrank, meine Freundin schüttelt stumm den Kopf. Die Katze schnüffelt interessiert an meinen schweißigen Sportklamotten, nur mein Sohn schwankt zwischen Mitleid und Stolz.

Wenn die Augen Ränder tragen und die Fersen Blut ausschwitzen, wird es Zeit, die Töppen abzuschnallen und sich auf die finstre Bank des Nimmerwiedersehens zu pflanzen. Neben all den Greisen und Kranken an Leib und Seele. Maradona, Gascoigne, Willmann. Finster ist`s dort und stumm. Der Sensenmann geht seine grimmigen Runden und schnappt sich alle paar Minuten einen von den verlorenen Jungs. Die ewige Jugend ist das Sehnsuchtsziel aller Sportler. Immer hart an die körperliche Grenze.

Dabei reicht mir heute ein Sprint übers Feld. Ein so genannter Sprint. Die alten Helden sind sich einig in der Verachtung jeder körperlichen Anstrengung. Versunken in die Betrachtung eines Nachmittags, schrubbern mir Erinnerungsmelodien durch die Hirnschale. Ich und das, was ich mein Fußball nenne, befinden sich im Winter. Im Jahr 2007 habe ich mein letztes Tor geschossen. Nach einer Ecke stand ich zehn Zentimeter vor der gegnerischen Linie und wurde quasi angeschossen. Wie Benzema am Dienstag beim Spiel gegen die Ukraine. Ihm wurde das Tor aber wegen einer falschen Abseitsentscheidung aberkannt.

In unserem Team der Dichter stand 2007 noch der spätere Feminist Bönt. Ein putziges Kerlchen, dessen Lebenssinn darin bestand, das Treiben verrückt zu machen. Wir sahen uns in der Folge gezwungen, ihm eine andere sportliche Betätigung nahe zu legen. Wo er in den indirekten Strukturen des Für-sich-sein, sein Ich und den Zirkel seiner Selbstheit, in Ruhe studieren und auswerten konnte. Leider ohne uns.

Als Kind beneidete ich die Spieler der DDR-Oberliga um ihren Beruf

Ein Leben lang dem Ball hinterher rennen. Einmal angefixt, geht mir die Leidenschaft nicht mehr aus dem Bein. Als Kind beneidete ich die Spieler der DDR-Oberliga und der BRD-Bundesliga um ihren Beruf. Wir mussten in die Schule, und uns dort von zänkischen Vertretern des real existierenden Sozialismus in Menschengestalt knechten lassen. Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten usw. Die Fußballer schliefen bis um neun. Dann frühstückten sie mit ihren schönen Frauen, die so gut nach Westseife dufteten.

Auch die DDR-Oberligaspielerfrauen wuschen sich mit echter Westseife, das wussten wir zehnjährigen Halbgötter ganz genau. Sie stiegen in Levisjeans, spülten ihren Rachen mit Odol und schlenderten mit ihren soooo schicken Adidastaschen zum Trainingsplatz. Der Trainer empfing sie mit verbotener Westmusik. Alle tanzten zu den Klängen der Rolling Stones. Cause I try and I try and I try and I try. I can't get no, I can't get no. Dann verteilte der Masseur aus einem großen Koffer Westgeld. Damit konnten die DDR-Oberligaspielerfrauen in den Intershops der DDR echte Westwaren kaufen.

Die Oberligaspieler waren Helden. Nicht nur für einen Tag, sie waren jeden Tag Helden. Alle Weimarer Jungs wollten Fußballspieler werden, besonders die Dicken und die Brillenschlangen. Ich war auch eine halbe Brillenschlange, ich benötigte die ersten Schuljahre eine Lesebrille. Seinerzeit die Höchststrafe. Mein letzter Wille war eine mit 'ner Brille. Ich schämte mich sehr und schwor meinen Mannschaftskameraden, fleißig an meiner Sehstärke zu arbeiten. In der sozialistischen Schule mussten die Kinder ständig irgendetwas schwören. Weltfrieden. Solidarität mit Kuba. Die ewige, unverbrüchliche Freundschaft zur Union der sozialistischen Sowjetrepubliken. Ich schwor der Brille ab. Wie durch ein Wunder erlangte ich in der Pubertät die volle Sehkraft zurück. Wir waren edle Wesen, unnachgiebige, besessene Kinder. Zerbrechlich wie Rinder in der Kolchose. Es gibt diesen Spruch vom Willen, der erlöst. Wer nichts zu tun hat, dem macht ein Nichts zu schaffen.

Spieltotquatscher Steffen Simon sagte am Dienstagabend nach dem Spiel der deutschen Nationalmannschaft: "Seit 1974 in England ungeschlagen. Und wieder ist Wembley deutsch". Als Freund des englischen Fußballs erlebe ich in schöner Regelmäßigkeit bitterstes Leid. Das Spiel sah ich mit vier verirrten Seelen. Unsere Beziehung zum deutschen Nationalfußball ist ein bisschen angespannt. Diesmal flatterten wir wie lustige Elfen durch die Berliner Luft. Auf eine Schaufel können eine Menge Verrückte passen. Es kommt nur auf ihre Größe an.

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