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© Pressefoto ULMER/Claus Cremer

Winter: Kicken im Kühlschrank

Der Winter hat auch den Fußball im Griff. Profis stöhnen, Platzwarte ackern, Ärzte warnen. Und für die Fans gibt es noch nicht einmal Bier.

Lucio war einer der wenigen, die sich trauten, die Wahrheit auszusprechen. Der brasilianische Verteidiger – heute bei Inter Mailand, damals beim FC Bayern – sagte dem deutschen Winter im Dezember 2007 ordentlich die Meinung. Er und seine Familie fühlten sich „wie Häftlinge der tiefen Temperaturen, wir sind Gefangene der Kälte“. Auch an diesem Wochenende wird es wieder eisig werden in der Bundesliga, am vergangenen Sonnabend verließen viele Hertha-Fans beim Heimspiel gegen Mönchengladbach schon zur Halbzeit das Stadion. Allerdings nicht wegen der mangelnden Qualität der Darbietung auf dem Platz, sondern weil sie die frostigen Temperaturen nicht mehr aushielten. Obendrein waren mehrere Bierzapfanlagen eingefroren. „Es war schon richtig fies kalt“, sagt Gladbachs Verteidiger Tobias Levels, der gegen Hertha 90 Minuten auf dem Platz stand. „Während des Spiel bekommt man das aber gar nicht so sehr mit, da fließt das Adrenalin.“ Für die Profis bedeuten strenge Minusgrade vor allem: mehr Sorgfalt in der Vorbereitung. „Man muss sich bewusster aufwärmen und bewusster anziehen“, sagt Levels. „Für die Jungs aus Südamerika ist es besonders schwierig, die spielen auch schon mal mit Leggins unter der kurzen Hose.“ Zum Gegenstand von mannschaftsinternen Witzen werden warm eingemummelte Brasilianer aber nicht, schließlich gibt auch Levels zu: „Fünf Grad plus sind auch mir angenehmer als 15 Grad minus.“

Unterm Rasen fließt Frostschutzmittel entlang

15 Grad unter null? Pah, da mag der Fußballprofi vielleicht zittern und der Hobbygärtner verzweifeln, für Alan Cairncross ist das kein Problem. Cairncross ist Platzwart, Entschuldigung, „Greenkeeper“, im Berliner Olympiastadion und schraubt dort an der Rasenheizung herum. Aktuell ist die Temperatur eingestellt auf „14, 15 Grad plus“. Sollen sie also nur grätschen, die Fußballer von Hertha, die hier am voraussichtlich wieder bitterkalten Samstagnachmittag gegen Bochum antreten. „Wir heizen mit Fernwärme, permanent, seit Einbruch der Frostperiode“, sagt Stadionsprecher Christoph Meyer. Knapp 30 Zentimeter unter dem Rasen befinden sich die Heizungsrohre, durch die ein Glykol-Wasser-Gemisch strömt, also quasi ein Frostschutzmittel. Geheizt wird nicht, damit der Rasen schön grün aussieht, sondern damit die Wurzeln nicht absterben. Sonst würden die Fußballer bei Tauwetter im Schlamm herumrutschen. Dafür verbraucht die Rasenheizung so viel wie 400 Elektro-Backöfen pro Stunde. Allerdings wäre das Austauschen des Grüns noch teurer: 125 000 Euro.

Ein Hubschrauber fegte den Schnee vom Stadiondach

Auch um die Arenen herum ist der Winterdienst im Einsatz, überall in der Stadionrepublik. Die Berliner Stadtreinigung schippt und fegt S- und U-Bahnhöfe und auch die Kassenbereiche frei, auf dem Stadiongelände in Berlin ist momentan eine mobile 35 Mann starke Spezialtruppe im Einsatz. Sie wischt Pfützen weg – nicht dass da ein Fan auf Bierblitzeis ausrutscht. Granulat gestreut wird auch – das hat aber den unangenehmen Nachteil, dass die Parkettböden in den VIP-Bereichen zerkratzt werden. Die gröbsten Schneemassen auf dem Dach des Olympiastadions hat übrigens ein Hubschrauber weggefegt. Kosten: 2500 Euro. Sollte tatsächlich mal die Rasenheizung ausfallen oder besonders schnell viel Schnee fallen (und somit liegen bleiben), dann greift der Platzwart einfach zum Spaten, schaufelt die Außenlinien frei und stellt rote Hütchen hin. Auf Schnee kann schließlich auch gespielt werden, nur eben mit rotem Ball. Der liegt an diesem Wochenende in allen Bundesligastadien bereit. Der Gladbacher Tobias Levels hätte auch damit kein Problem „Für die Fans ist die Kälte sicher schwieriger als für uns Spieler“, sagt er. „Es ist nachvollziehbar, wenn das jemand keine 90 Minuten aushält.“

Viel schlimmer war es noch in den 90er Jahren

Dabei müssen Bundesligazuschauer heute schon weitaus weniger frieren als noch in den neunziger Jahren – also bevor all die Stadien für die WM 2006 gebaut wurden, modern und komplett überdacht. Damals standen die Fans in Köln (die alte Müngersdorfer Schüssel!), Hamburg (der zugige Volkspark!) oder Berlin (ja, auch das Olympiastadion hatte nur zwei Tribünendächer!) tapfer in der Kälte. Sie froren auf matschig-ungeteerten Tribünen, der hereinfegende Schnee verklebte ihnen die Wimpern. Und immer wärmten sich die Tapferen in der Halbzeitpause auf dem maroden Stadionklo, weil es nur da eine Heizung gab. Selbst in München, wo es das ach-so-toll-geschwungene Olympia-’72-Dach gab, rutschten den Fans oft Schneelawinen in den Nacken. Die heutigen Stadien sind fanfreundlicher.

Für Kleinkinder gibt es heißen Tee

In der Berliner Stadionkita gibt es heißen Kakao und Tee für Kleinkinder, das Dach hat einen Neigungswinkel von fünf Grad (nach außen, nicht in Richtung Spielfeld), das schmelzende Eis fließt über Rohre in eine unterirdische Zisterne, in die 15 Millionen Liter Wasser passen und mit denen der Rasen gewässert wird. Im Sommer. Übrigens kann man auch auf weißem Untergrund guten Fußball spielen. Am 7. Januar 1967 gelang den Gladbachern gegen Schalke auf Schnee beim 11:0 der bis dahin höchste Bundesligasieg. Und auch Trainer Hans Meyer hat sich schon wohlwollend über schneebedeckte Plätze geäußert. „Verletzten konnte sich keiner“, sagt er nach einem Schneespiel. „Die sind ja alle weich gefallen.“

Sport bei Minus 15 Grad: Und was sagt der Mediziner?

Für die medizinischen Abteilungen der Klubs bedeuten Minusgrade aber trotzdem erhöhte Alarmbereitschaft, besonders Zerrungen und Muskelfaserrisse drohen. „Wenn es kalt ist, muss man sich erst recht aufwärmen. Es dauert im Winter eben ein paar Minuten länger“, sagt der Berliner Sportmediziner Thorsten Dolla, langjähriger Mannschaftsarzt von Hertha BSC. Für Amateursportler gelten laut Dolla minus 15 Grad als die Grenze, unterhalb derer man doch bitte auf Sport verzichten sollte – nicht nur aus Rücksicht auf die Muskulatur. „Grundsätzlich sollte man bei großer Kälte durch die Nase atmen, weil die Luft dabei auf dem Weg in die Lunge noch angewärmt wird“, sagt Dolla. „Das können Fußballer aber nicht, die müssen nach Sprints durch den Mund atmen.“ Dadurch steige aber das Risiko, sich zu erkälten oder sogar eine Bronchitis einzufangen. Auch eine ganz andere Gefahr droht: Dehydrierung. Ob heißer Tee oder kaltes Wasser – in der Halbzeit müssen Fußballer viel trinken, auch wenn es schwerfällt. „Im Winter hat man weniger Verlagen zu trinken als im Sommer“, sagt Dolla. „Man schwitzt natürlich aber trotzdem, die große Gefahr ist, dass man austrocknet.“

Kälte ist gefährlich, Kälte tut weh – und drückt aufs Gemüt. Lucio hielt immerhin zehn deutsche Winter aus, bevor er nach Italien wechselte. Sein Landsmann Junior Baiano flüchtete schon in seinem zweiten Dezember von Werder Bremen zurück in die Heimat. „Bremen war ein Albtraum“, sagte er zum Abschied. „Es muss die kälteste Stadt auf dieser Erde sein. Ich habe immer gefroren, ich habe niemanden verstanden, und mir ging es schlecht.“

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