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Sport: „Wir waren Sibirien“

Hans Meyer über 40 Jahre Bundesliga, über Fußball in der DDR und die Qualität der westdeutschen Trainer

Herr Meyer, die Bundesliga wird 40. Haben Sie noch Erinnerungen an die alte Sportschau?

Die Sportschau hat für die meisten Fußballinteressierten eine zentrale Rolle gespielt.

Auch in der DDR?

Was denken Sie denn? Wer samstags um sechs nicht zu Hause war, der musste schon wichtige Gründe vortragen.

Glauben Sie, es hat Trainer in der DDR gegeben, die keine Sportschau geguckt haben?

Das kann ich mir nicht vorstellen. Obwohl – ich könnte jetzt sagen: Eduard Geyer. Der hat im Tal der Ahnungslosen (Dresden, Anm. d. Red.) gewohnt und konnte kein Westfernsehen empfangen. Das würde dann auch erklären, warum er Uli Hoeneß in den Europapokalspielen mit Dresden gegen die Bayern hat davonlaufen lassen. Der Ede wusste vielleicht gar nicht, wie schnell Hoeneß war.

Gab es noch andere Möglichkeiten, sich über die Bundesliga zu informieren?

Ab 1962 habe ich in Jena Sport und Geschichte studiert. Da konnte ich den „Kicker“ in der Bibliothek lesen. Man musste aber immer noch mal fragen, weil der in einem Extraraum deponiert war.

Was hat der „Kicker“ Ihnen für Ihre Arbeit als Trainer gebracht?

Ein paar Hintergrundinformationen. Aber fachlich musste sich unsere „Fußballwoche“ hinter dem „Kicker“ nicht verstecken.

Hat die „Fußballwoche“ auch über die Bundesliga berichtet?

Ganz hinten im Heft – unter der Rubrik Ausland. Das hatte natürlich politische Gründe. Unser Interesse an der Bundesliga war immens. Wesentlich größer als das des Westens an der DDROberliga. Wir haben doch für die BRD überhaupt nicht existiert. Wir waren nicht 400 Kilometer weg. Wir waren Sibirien.

So schlimm?

Ich habe mich letztens mit Christian Hochstätter unterhalten …

… dem Sportdirektor von Borussia Mönchengladbach …

… der nie in seinem Leben in der DDR gewesen ist. Wir hatten ein Meisterschaftsfoto vom 1. FC Nürnberg von 1968. Die Spieler kannte ich alle. Aber der Christian hatte noch nie von Peter Ducke gehört, einem der wenigen Weltklassespieler, die wir in der DDR gehabt haben. 1960 wollte Atletico Madrid Ducke verpflichten. Da war er 18, und Atletico hat zwei Millionen D-Mark geboten. Trotzdem kennt ihn im Westen kein Mensch. Er hat halt nie bei einer WM gespielt, nie bei einer EM, keinen Europacup gewonnen.

Würden Sie sagen, dass Sie von der Bundesliga geprägt worden sind?

Nein, die Leute in der DDR sind auch nach Einführung der Bundesliga weiter tanzen und ins Theater gegangen. Ich habe mich für bestimmte Entwicklungen interessiert, und da muss ich sagen, dass ich in taktischer Hinsicht bei den Bundesligisten sehr selten was Revolutionäres gesehen habe. Ich war fasziniert davon, was Ernst Happel mit dem HSV gemacht hat: von diesem bedingungslosen Forechecking und davon, wie seine Mannschaft den Gegner dominiert hat. Ich habe mich immer für Mannschaften begeistern können, die den Stil einer Liga länger geprägt haben – so wie der AC Mailand Ende der Achtziger. Oder Barcelona unter Cruyff.

Wurde von Ihnen zu DDR-Zeiten verlangt, die Bundesliga professionell zu verfolgen?

Gar nicht. Das hat in Jena einen Dreck interessiert. Man hat uns zwar immer den großen Bruder vor die Nase gehalten, der das Weltniveau mitbestimmt hat, aber bei der WM 74 ist nicht ein Trainer von uns drüben gewesen, weil man gesagt hat: „Hier haben wir die Weltspitze vor der Nase. Fahrt mal alle hin!“ Wir durften als Touristen mit den Fan-Zügen mit. Ich sollte zum Gruppenspiel der DDR gegen die BRD. Wissen Sie, was man von mir erwartet hat? Dass ich morgens um vier in Gera in den Zug steige, mit den Fans nach Hamburg fahre, meine Fahne mit Hammer und Zirkel schwenke, von den anderen Zuschauern wie ein Exot angeglotzt werde, nach dem Spiel wieder in den Zug steige und tief in der Nacht zu Hause bin. Dass ich mitdarf, hat man mir noch als Gnadengeschenk verkauft, weil meine Schwester im Westen lebte – und dass, obwohl ich als Heimtrainer sechs Nationalspieler in Hamburg dabei hatte und vorher schon jahrelang dienstlich im Westen unterwegs war. An dem Tag habe ich Magenbeschwerden bekommen und musste zu Hause bleiben.

Hat es bis zur Wende gedauert, bis Sie mal ein Bundesligaspiel im Stadion gesehen haben?

Aber nein. Es gab in den Achtzigerjahren deutsch-deutsche Sportvergleiche, den so genannten Sportkalender. Da habe ich gegen Kaiserslautern gespielt, gegen Bremen, gegen den KSC. Die Spiele waren bei uns so hoch angesehen, dass ich vorher sogar zur Beobachtung in den Westen reisen durfte. Darüberhinaus habe ich natürlich 1979 gegen Duisburg im Europacup gespielt und bei dieser Gelegenheit auch Originalspiele der Bundesliga gesehen.

Was hat Sie bei diesen Besuchen fasziniert?

Diese niveauvolle Atmosphäre, und ich meine damit nicht die weichen Sessel im Vip-Raum. Bei uns wurde in den Stadien nichts für die Leute getan. Die Tribüne in Jena ist 1925 gebaut worden. Jede Zigarette hätte gereicht, um das Ding abzufackeln.

Hat mal ein Spieler zu Ihnen gesagt, dass er in die Bundesliga will?

Nie. So was hat vielleicht der eine oder andere gedacht. Dabei wussten die natürlich, welches Geld in der Bundesliga gezahlt wurde. Dafür, dass der Fußball einem Spieler im Westen Möglichkeiten eröffnet hat, sind verdammt wenige drüben geblieben. Wir hätten sie ja nicht daran hindern können.

Haben Sie einen Lieblingsverein aus der Bundesliga gehabt?

Lieblingsverein wäre zu viel gesagt. Aber dass 1954, als wir Weltmeister wurden, fünf Spieler vom Provinzklub Kaiserslautern dabei waren, das habe ich schon registriert. Und ich war begeistert über die Spielweise der Gladbacher Ende der Sechzigerjahre bis Mitte der Siebzigerjahre.

Als „wir“ Weltmeister wurden?

Wissen Sie, wie ich das Spiel erlebt habe? In Rossleben an der Unstrut, und zwar parallel zu einem Fußballspiel in der Bezirksklasse. Ich war zwölf. Während das Spiel lief, ist über Lautsprecher die Radioreportage übertragen worden. Und als es vorbei war, haben viele Leute die Arme hoch gerissen – ohne dass gleich jemand verhaftet wurde.

Wie kann das sein, dass sich die DDR für die Nationalelf der Bundesrepublik begeistert?

Ich glaube, dass das 1954 noch sehr viel einfacher war, dass sich zu dieser Zeit die Deutschen noch nicht so auseinandergelebt hatten wie später. Diese Begeisterung habe ich 1974 nicht mehr erlebt, auch wenn sich natürlich noch genügend gefreut haben, dass die BRD Weltmeister geworden ist; aber es gab eben auch eine ganze Menge, die das 1:0 des kleinen Bruders gegen die BRD bejubelt haben und die gehofft hatten, dass die DDR bei dieser WM ein Stückchen weitergekommen wäre. Aber für mich war das irreal.

Warum?

Weil jedem Fachmann klar war, dass die Bedingungen für Leistungsfußball in der DDR nicht optimal gegeben waren.

In fast allen Sportarten war die DDR führend – nur im Volkssport Fußball nicht.

Ich will Ihnen ein Beispiel nennen: Welches Land – außer der DDR – hatte eine Kunsteisbahn fürs Rennrodeln? Hatte die Bundesrepublik eine? Die Schweiz? Die Sowjetunion hatte eine. Die DDR hatte zwei. Eine in Altenberg, eine in Oberhof. Wissen Sie, wie viel die Bahn in Altenberg gekostet hat, als das Geld schon überall sauknapp war? Über 100 Millionen – obwohl man keine Devisen gehabt hat, obwohl es an allen Ecken und Enden gefehlt hat. Und warum? Die Rennrodler haben dauernd die Fahne gehisst, dauernd Gold, Silber und Bronze geholt – weil sie keine Konkurrenz hatten. Und weil keiner diesen Sport mit dieser Akribie, mit diesem unglaublichen Aufwand, mit dieser Wissenschaftlichkeit betrieben hat. Das konnte ja auch gar keiner. Die Marktwirtschaft steckt nur da Geld rein, wo sie auch definitiv wieder was rauskriegt; die DDR hat da investiert, wo man die Medaillen bekommen und die Hymne hören konnte.

Der Sport war für die DDR ein Mittel, um internationale Anerkennung zu erhalten. Manfred Ewald, der Sportchef der DDR, hat dieses System mit brutaler Konsequenz perfektioniert.

Natürlich kann man Ewald vorwerfen, dass er Minderjährige mit Tabletten füttern ließ. Aber er war auch ein Mann mit einem messerscharfen Verstand und mit einem Kosten-Nutzen-Denken ohnegleichen. Wenn Ewald gekonnt hätte, hätte er den Fußball eiskalt fallen lassen. Erstens, weil er Fußball nicht gemocht hat, und zweitens, weil der Aufwand für die eventuelle Olympiamedaille viel zu groß war. Da brauchte er nicht mal falsche Berater, um zu erkennen, dass sich die Deutsche Demokratische Republik gegen 30 Länder mit Profifußball gar nicht behaupten konnte. Wir haben im zweiten Glied gespielt, ganz klar.

Sie haben es mit Jena trotzdem ins Europacup- Finale geschafft.

Ja, aber wir sind eben nicht Europapokalsieger geworden. Wo es in die Annalen eingeht, da waren wir nicht dabei. Gegen AS Rom sind wir mit einer Bezirksauswahl angetreten, gegen eine Mannschaft mit Falcao, dem Kapitän der brasilianischen Nationalmannschaft, mit vier italienischen Nationalspielern, zwei Uruguayern. Und wir konnten keinen Polen holen, keinen Tschechen, keinen Ungarn. Das wär ja noch gegangen. Aber wir konnten auch keinen aus Rostock holen, keinen aus Berlin, keinen aus Dresden. Im eigenen Saft haben wir geschmort. Im Grunde war das Wettbewerbsverzerrung und trotzdem hat Magdeburg 1974 den Europapokal gegen den AC Mailand geholt und stand Lok Leipzig neben uns 1987 in Athen gegen Ajax Amsterdam im Finale.

Hätten Sie sich – sagen wir – 1984 zugetraut, eine Bundesliga-Mannschaft zu übernehmen?

Also, da haben Sie ja fast ein bisschen zu viel Hochachtung vor der Bundesliga. 1984 war ich seit 14 Jahren Trainer. Da hatte ich längst gegen große Mannschaften gespielt. Wenn Sie 14 Jahre Auto gefahren sind, haben Sie auch keine Angst mehr, einen neuen Autotyp zu fahren.

Glauben Sie, dass im Westen mehr Blender als Trainer arbeiten als früher im Osten?

So absolut will ich das nicht sagen. Aber natürlich gab es Unterschiede. In der DDR konntest du nur mit einer Hochschulausbildung Trainer werden – mit allem, was dazugehört: mit Politik, mit Gesellschaftswissenschaft, Psychologie, Pädagogik, mit Anatomie, Physiologie, Trainingslehre, und alles ganz fundiert. Das bedeutet natürlich nicht, dass du deswegen automatisch ein guter Trainer wirst. Ich glaube sogar, dass wir den Fußball manchmal zu verkompliziert, ihn zu sehr in seine Einzelteile zerlegt haben. Aber Jupp Heynckes wird heute in Schalke für etwas gefeiert, was wir in Jena schon vor 30 Jahren praktiziert haben. Nur dass wir zur Mittagsruhe nicht ins Hotel gegangen sind, sondern in unserem Sportobjekt eigene Ruheräume gehabt haben.

Trotzdem: Als Sie 1999 bei Borussia Mönchengladbach angefangen haben, sind Sie mit der unterschwelligen Botschaft empfangen worden: Jetzt arbeiten Sie im Westen, endlich haben Sie es geschafft – und das, obwohl Gladbach damals Letzter in der Zweiten Liga war.

Zu dem Zeitpunkt hatte ich eigentlich lange mit der Bundesliga abgeschlossen. Wenn ich gleich nach der Wende die Chance bekommen hätte, in der Bundesliga zu arbeiten, dann hätte mich das richtig gereizt. Ich habe damals auch gedacht: Hey, da wird schon jemand kommen. Aber ich war immer schon in einer beängstigenden Weise Realist. Nach drei, vier Monaten wusste ich, dass ich im Westen keine Chance habe.

Warum nicht?

Weil überhaupt keine Basis da war. Ich hätte mir einen Mann nehmen müssen, der für mich klappern geht. Mich selbst kannte niemand. Erich Ribbeck kannte mich, drei, vier andere Trainer noch, gegen deren Mannschaften ich gespielt hatte, und vielleicht der eine oder andere Präsident.

Hat Sie das sehr bedrückt?

Ach was, das ist der normale Lauf der Dinge. Nur in meinem eigenen Kopf war das damals nicht normal. Aber so schlecht haben wir nun nicht gearbeitet. Das sieht man schon daran, wie viele Spieler nach der Vereinigung im Westen richtig begehrt waren. Das Ganze ist kurz und schmerzlos gelaufen, danach hatte die Ostseite keine Geschichte mehr.

Wie meinen Sie das?

Nehmen Sie nur das Hickhack darum, wie viele Vereine aus der DDR in die Bundesliga dürfen, den langen Kampf um den Status der ehemaligen Ost-Nationalspieler oder diese Sechs-plus-zwei-Regelung …

… nach der sich die ersten beiden der Nordost-Oberliga für die Bundesliga qualifiziert haben, die nächsten sechs für die Zweite Liga.

Natürlich spielen die historischen Erfolge des BRD-Fußballs da eine Rolle. Aber wenn die Ostvereine wenigstens eine Chance bekommen hätten, Fuß zu fassen. Heute kann man sich natürlich hinstellen und sagen: Moment mal, wo sind sie denn alle geblieben? Wir haben doch Recht gehabt.

Den Trainern aus dem Osten ist es nicht anders ergangen. Hansa Rostock hat nach der Wende fast nur West-Trainer gehabt.

Das war ein bisschen die allgemeine Tendenz dieser unmittelbaren Wendezeit. Viele waren ja geprägt durch die Berichte der Sportschau. Schaut euch die Bundesliga an, wie fantastisch da gespielt wird! Dann müssen ja auch die Trainer fantastisch sein. Im Endeffekt war es dann aber so, dass du von der Realität ein bisschen enttäuscht warst.

Das Gespräch führten Stefan Hermanns und

Michael Rosentritt.

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