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So isser, der Amerikaner: ein Showman - wie Alexi Lalas, local hero der Fußball-WM 1994 in den USA, die vor 20 Jahren den "Soccer" in den Vereinigten Staaten populär machen sollte.

© AFP

WM 1994 - Kick für die "Neue Welt": Wir Antiamerikaner - gerne auch im Fußball

Vor 20 Jahren begann die Fußball-WM in den USA, die in Deutschland damals skeptisch gesehen wurde. Für den Sammelband "Fußball-Weltmeisterschaft" hat Markus Hesselmann über den Antiamerikanismus geschrieben - auch seinen eigenen.

Von Markus Hesselmann

Ein sonniger Nachmittag in Minneapolis, sattgrüne Fußballfelder, gepflegter Rasen, sauber gekreidete High-School-Idylle: "Peter, Peter, he’s our man, if he can’t do it nobody can", ruft ein Häuflein Fans immer wieder über den Platz. Der Vers gilt dem Torwart eines der beiden Schüler-Teams, die hier angetreten sind. Peter ist der Sohn eines Professors, der seine internationalen Gäste mit liebevoll, aber nachdrücklich orchestrierter Gruppendynamik in Adhoc-Cheerleader verwandelt hat. Einige der südamerikanischen, afrikanischen und asiatischen Gäste, stolze Journalisten allesamt, wirken ein bisschen indigniert, wollen aber nicht als Spielverderber dastehen. Sohnemann trägt’s mit leicht herablassendem Stoizismus. So ist halt Dad, laut und liebevoll. Er kennt das, die Konzentration des Keepers leidet nicht. Von faltbaren Anglerstühlen aus werden Peters Paraden sowie die Aktionen seiner Mitspieler und Gegner mehr oder weniger fachkundig kommentiert. Die Soccer-Moms und -Dads – Inbegriff der gehobenen weißen middle class – haben sich am Spielfeldrand niedergelassen. Ein Jahrzehnt nach der WM in den USA spielt sich diese – bis auf die skandierende Journalistentruppe – alltägliche Szene im mittleren Westen ab. Der Fußball hat seinen festen Platz an den Schulen und Universitäten längst gefunden. Die Eltern diskutieren mit den Gästen über die Vorzüge des schönen europäischen Spiels: Zum Beispiel gibt es weniger Verletzungen als beim Football oder Hockey (sprich: Eishockey). Auch müsse man keine kostspieligen Ausrüstungen kaufen und pflegen.

Solche gesundheits- und fiskalpragmatischen Erwägungen sind sicher nicht das, was Andrei S. Markovits unter "Talking Sports" versteht, einen der zentralen Bestandteile, durch die eine Sportart in einem Land zu Kultur und somit mehr wird als körperliche Aktivität. Als ich Markovits, Wissenschaftler und Wanderer zwischen den Fußballwelten, als Kronzeugen für diesen Buchbeitrag anrufe und von jener selbst miterlebten Szene erzähle, die sich ein knappes Jahrzehnt zuvor um einen seiner amerikanischen Professorenkollegen drehte, muss er laut lachen. "Dass Akademiker sich solche Sorgen um ihre Kinder machen, ist nicht entscheidend", sagt Markovits. Das sei ohnehin das klassische Soccer-Milieu in den USA. Erst wenn die Eltern schwarzer Kids und die alleinerziehende "Working Class Mom" aus dem Süden sich solche Gedanken machten, dann würde das dem Fußball in den USA weiterhelfen.

"Talking Sports" wäre auch das noch nicht wirklich. Damit meint Markovits das, was ihm seine Frau einmal deutlich vor Augen führte: Das Quatschen über das Spiel – im Stadion, in der Sportsbar, bei der Arbeit mit Kollegen – sei ihm doch letztlich sogar wichtiger als das Spiel selbst, hatte sie beobachtet. Bis "Soccer" die "großen Dreieinhalb" – Football, Baseball, Basketball und die wegen geringerer Verbreitung dann doch eher halbe Portion Eishockey – als Gesprächsthema verdrängt, ist es noch ein weiter Weg. Aber es sind solche weichen Faktoren, die am Ende wohl wichtiger für die Entwicklung des Fußballs in der Diaspora sind als die harten, kommerziellen Fakten. Insofern ist die "Working Class Mom" womöglich wichtiger als der nächste abgetakelte europäische Superstar Marke Beckham, der die Profiliga MLS beehrt. Und Markovits sieht die "Working Class Mom" durchaus auf dem richtigen Weg. Die Angst der Eltern aller Schichten vor "Concussions", Gehirnerschütterungen und anderen Verletzungen, nennt Markovits als einen nicht zu unterschätzenden Aspekt, der für den Fußball und gegen den Football spricht. Das habe sich in jüngster Zeit verstärkt und werde breit diskutiert.

Es ist eine Gemengelage, ein Mischmasch, aus dem heraus der Fußball in der Neuen Welt doch noch erfolgreich und nachhaltig erstehen könnte. Einer der wichtigsten Aspekte dabei sind die Neuen Medien: Durch die Digitalisierung ist der "Soccer" inzwischen deutlich präsenter in den USA als zu streng analogen Zeiten. Markovits beobachtet eine wachsende Szene, getragen von Spartenkanälen, Blogs, Foren und den Internetseiten der klassischen Medien. Das ist der Nährstoff, durch den "Talking Sports" gedeiht. Größen wie Uli Hesse, der für ESPN über deutschen Fußball schreibt, sind hier erfolgreich missionarisch tätig.

Hilft Jürgen Klinsmann nachhaltig?

Jürgen Klinsmann war bei der WM 1994 als deutscher Nationalspieler in den USA und trainiert bei der WM 2014 in Brasilien nun das amerikanische Nationalteam.
Jürgen Klinsmann war bei der WM 1994 als deutscher Nationalspieler in den USA und trainiert bei der WM 2014 in Brasilien nun das amerikanische Nationalteam.

© dpa

Was aber weiterhin fehlt, ist die sportliche Initialzündung: ein Erfolg des US-amerikanischen Männerteams. Die Frauen sind ja bekanntlich schon lange ganz vorn, was aber auch nicht wirklich zum "Talking Sports" in den Bars zwischen Miami und Seattle beiträgt. Ob Jürgen Klinsmann als aktueller Nationaltrainer ergebnisgesättigten Gesprächsstoff nachhaltig liefert, steht nicht zuletzt bei der WM in Brasilien auf dem Spiel. Als Sonnyboy der WM 94, nach dem frühen Ausscheiden der Deutschen dann aber doch eher tragischer Held, hat er dem Fußball seinerzeit zumindest schon einmal ein Gesicht verliehen. Eines, das die Leute im eigenen Nationaltrainer jetzt immerhin wiedererkennen. Die WM in den USA jedenfalls war auch über die Stars aus dem Ausland hinaus kein Rohrkrepierer, sie brachte die Amerikaner aber doch nicht nachhaltig für den "Soccer" zum Glühen.

Dabei schnitt das Team um den Rockmusiker Alexi Lalas gar nicht mal schlecht ab. Beim Comeback 1990 in Italien noch Gruppenletzter, gelang den Amerikanern nun der Einzug in die K.o.-Runde. Aufsehen erregte dabei besonders der überzeugende Sieg über den "Geheimfavoriten" Kolumbien (2:1), während man zum Auftakt gegen die Schweiz ein Unentschieden holte und gegen starke Rumänen knapp mit 0:1 verlor. Auch der letzte Auftritt gegen den späteren Weltmeister Brasilien im Achtelfinale war vom Ergebnis 0:1 her nicht schlecht – wenn nur die Überlegenheit des Gegners am Ende nicht so eindeutig gewesen wäre. Und all das auch noch am Nationalfeiertag, dem 4. Juli. Da lässt sich kein Amerikaner gern die Unterlegenheit seiner sportlichen Stellvertreter vor Augen führen.

Aber vielleicht ist das ja auch schon wieder eines der vielen "Ami-Klischees", die uns Europäer umtreiben. "Neue Welt", ein hier von mir schon gebrauchter Begriff, ist ja auch schon einer von denen, die Markovits in seinem Buch "Amerika, dich hasst sich’s besser" aufgespießt hat. Keine ihrer Eroberungen hätten die europäischen Kolonialherren in dieser Weise stilisiert, schreibt Markovits, nur Amerika, das fundamental "Andere", den Gegenentwurf, das über Jahrhunderte gewachsene Eben- und Feindbild. Der Soziologe, Germanist und Kosmopolit Markovits, im rumänisch-ungarischen Temesvar geboren, in Wien aufgewachsen und in den 1960er Jahren mit seinen Eltern in die USA ausgewandert, forscht an der Universität Michigan. Von dort aus und auf seinen vielen Reisen verfolgt er den Sport in den USA und der Welt – natürlich auch Soccer, den europäischen Fußball, aus alter Verbundenheit und jahrzehntelanger Begeisterung.

Ich habe mich in dem Markovits-Buch durchaus wiedererkannt. Die Klischees über angeblich oberflächliche Amis und all der andere Quark sind mir nicht fremd. Meinen Landsleuten ohnehin nicht. Eine beliebige Google-News-Abfrage reicht: Wer "Amerikanisierung" eingibt, bekommt jederzeit genügend Beispiele. Da warnen die »Freien Wähler« in Bayern vor einer »Amerikanisierung« des deutschen Gesundheitssystems, die laut Bildungsexperten ohnehin auch dem deutschen Schulsystem droht. Da nimmt irgendein Provinzkabarettist die »Amerikanisierung der Esskultur aufs Korn«. Und da wird Halloween alljährlich und geradezu rituell als Untergang europäischer Traditionen aus dem Ungeiste Amerikas beschworen. Und im Fußball funktioniert das auch immer gut: Ex-Trainer Hans Meyer, Fußballkauz und Fußballweiser, spricht im Interview mit dem "Kicker" zum 70. Geburtstag den folgenden Satz: "Wir haben immer mehr, ich sage mal, 'Amerikaner' im Stadion. Die interessiert die Show. Das Spiel viel weniger."

Auffällig dabei ist, was auch Markovits zu Recht anführt: Begriffe wie "Amerikanisierung", "amerikanische Verhältnisse" oder einfach "Amerikaner" sind Selbstläufer, die sich tief im kollektiven Bewusstsein verrannt haben. Es müssen dann auch keine Gründe mehr angeführt werden, was denn eigentlich am genannten Unwesen nun tatsächlich so typisch amerikanisch sei und an welchen konkreten Beispielen sich das festmachen ließe. Der Begriff "Amerikanisierung" reicht, um die nötigen Glocken läuten zu lassen. Hans Meyers "Amerikaner"-Spruch muss dann auch nicht von den drei anwesenden "Kicker"-Redakteuren hinterfragt werden. Amerika gleich Show – das ist bei uns Allgemeingut.

Der Fußball eignet sich vorzüglich, um europäische Hochnäsigkeit gegenüber "den Staaten" zu belegen. "Als die Fußballweltmeisterschaft 1994 an die Vereinigten Staaten vergeben wurde, gab sich die europäische Presse und Fußballwelt überwiegend erschreckt und zornig", schreibt Markovits. "Statt sich zu freuen, dass die letzte bedeutende Terra incognita des Fußballs im Begriffe stand, von dem 'schönen Spiel' (the beautiful game) erobert zu werden, äußerten die Europäer die üblichen Vorbehalte gegenüber der amerikanischen Derbheit, Vulgarität, Geschäftigkeit und Ignoranz.« Ich selbst wäre auch niemals auf die Idee gekommen, zur WM in den USA zu fahren. Auch ich sah die Vergabe dorthin nur als weitere Kommerzialisierungsetappe, nicht als Chance, den Radius meiner Lieblingssportart zu erweitern. Damit wollte ich nichts zu tun haben.

Und wirklich gute Musik können sie auch nicht

Ohnehin habe ich in den ersten drei Jahrzehnten meines Lebens einen Bogen um die Vereinigten Staaten von Amerika gemacht. Als mein Vater ein halbes Jahr beruflich in Houston, Texas, zu tun hatte und mich einlud, ihn zu besuchen, lehnte ich dankend ab. Was sollte ich in einer Stadt ohne Bürgersteige, dafür aber voller schwer motorisierter Rednecks und Cowboys? Reine europäische Borniertheit, wie Markovits wohl zu Recht sagen würde, wenn er nicht so ein freundlicher Mensch wäre. Mein Land war immer Britannien, Heimat des Fußballs, Heimat des Pop. Amerika: Das war was für "Rockisten" (ein Kampfbegriff der Generation "Spex"), für Motorradfahrer, für Footballspieler. Alles eine Nummer zu groß, alles eine Nummer zu grob, alles eine Nummer zu laut. Mein Ideal war die kleine Form. Durch die CD zur WM 1994 fühlte ich mich bestätigt. Furchtbarer Pathos-Poprock, gipfelnd in Tina Turners "Simply the best". Größtenteils unhörbar das alles. Doch plötzlich mittendrin das wunderbare kleine Fußball-Lied "Goal Goal Goal" von James: "I’m in love with a football-club at the age of seven my father took me." Aber was hat diese feine nordenglische Band gleich noch mal mit Amerika zu tun? Eben, wirklich gute Musik können sie auch nicht.

Das ist natürlich Quatsch, und hinterher habe ich mich geärgert, nicht dabei gewesen zu sein. Bis heute. Zuletzt wieder, als ich mir für diesen Artikel noch einmal Berichte und Kommentare von Kollegen ansah. Zum Beispiel die von Michael Rosentritt. Als Ostdeutscher wusste er Amerika, das offene, weite Land, wohl besser zu schätzen als ich in meinem bundesrepublikanischen Little-Deutschländer-Wahn.

Allerdings sei auch er mit einem "Sack voll Vorurteilen" dorthin gefahren, erzählt Rosentritt, der damals für die "Neue Zeit" von der WM berichtete. Schließlich habe er sich ins "Herz des Kapitalismus" begeben. Auch bei den meisten anderen Kollegen habe "große Skepsis" geherrscht. Noch größer sei aber dann die Überraschung gewesen: Perfekte Organisation, bestmögliche Stimmung in ausverkauften Großarenen. "Selbst der größte deutsche Besserwisser war am Ende überzeugt." An ein Detail erinnert er sich noch heute sofort: Wickeltische in Männertoiletten von Sportstadien, in Deutschland und wohl auch dem Rest Europas undenkbar. Ein Beleg dafür, wie weit die Amerikaner bei der Gleichberechtigung der Geschlechter schon damals waren – ein Argument pro Amerika, das auch Markovits gern nennt.

Michael Rosentritt ist auch nach der WM immer wieder dorthin gefahren, hat eigentlich jeden Urlaub in den darauffolgenden Jahren in den USA verbracht. "Ich bin der Kraft, die dieses Land ausstrahlt, erlegen", sagt er.

Ich dagegen war noch niemals in New York. 2006 war ich längst geheilt und immerhin mal in Seattle gewesen und in Minneapolis, wie gesagt. Umso mehr nervte mich der damals zur WM in Deutschland anschwellende Kulturkampf ums alleinseligmachende deutsche Bier. Mit "amerikanischer Plörre" der Marke Budweiser, die mit dem durchaus noch goutierten tschechischen Original nur den ohnehin meist US-typisch verkürzten Namen gemein hat, wollten Blatter und seine Krämer-Kohorten unsere WM verwässern! Mir hat das Bud gut geschmeckt, vor allem eiskalt im heißen Fußballsommer 2006. Aber das ist eine andere Geschichte.

Der Beitrag erschien im Sammelband "Fußball-Weltmeisterschaft", erschienen im Verlag Die Werkstatt und herausgegeben von Bernd-M. Beyer und Dietrich Schulze-Marmeling. Er versammelt Autoren wie Christoph Biermann, Hardy Grüne, Ulrich Hesse, Matti Lieske, Ludger Schulze, Norbert Thomma, Jonathan Wilson und David Winner und ist hier erhältlich. Für den September ist eine aktualisierte, um die WM 2014 in Brasilien erweiterte Neuauflage geplant.

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