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Thomas Müller gehört zu den Leidtragenden eines Systems, das nicht funktioniert. Er hat oft weder Raum noch Ball.

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WM 2014 -Deutsche Mannschaft: Die Nationalelf spielt harmlosen Verschleppungsfußball

In der Theorie wollte Löw in Brasilien wieder ans Ideal von 2010 heran kommen. In der Praxis spielen die Deutschen aber harmlosen Verschleppungsfußball: Getragen statt getrieben, in schlechten Momenten fast ein bisschen bräsig.

Mesut Özil und André Schürrle trieben die Passquote noch einmal in ungeahnte Höhen: Schürrle passte zu Özil, Özil passte zurück zu Schürrle. Das Problem war nur: Alles spielte sich im Strafraum der Algerier ab. Schürrle hatte freie Bahn zum Tor, Özil ebenso, aber erst im dritten Anlauf konnte sich Schürrle zum Abschluss entscheiden, im vierten traf Özil zum 2:1-Endstand. Diese Szene am Ende des Achtelfinales gegen Algerien sagt im Grunde alles über das Problem des deutschen Spiels bei der Weltmeisterschaft in Brasilien. Anstatt entschlossen den Weg zum Tor einzuschlagen, drehen die Deutschen vor dem Ziel einen Kringel oder setzen noch einen Haken. Manchmal wirkt es so, als sei der Mario-Götze-Fußball inzwischen stilbildend für die gesamte Mannschaft.

Vier Jahre ist es her, dass die Nationalmannschaft die Herzen des globalen Publikums buchstäblich im Sturm erobert hat. Bei der WM in Südafrika war ihr Spiel, zumindest bis zum Halbfinale gegen Spanien, unwiderstehlich, wagemutig, mitreißend. Dieses Gefühl hat sich in Brasilien noch nicht eingestellt.

Natürlich hängt das auch etwas mit den Rahmenbedingungen zusammen. In Südafrika haben die Deutschen nach dem Ausfall ihrer Führungsfigur Michael Ballack von ihrer ungewohnten Außenseiterrolle profitiert. „2010 hatten wir einfach viel mehr Platz“, sagt Hans-Dieter Flick, der Assistent von Bundestrainer Joachim Löw. „Da sind nach Ballgewinn in unserer Hälfte drei, vier, fünf Mann losgespurtet und waren nach zehn, fünfzehn Sekunden im gegnerischen Strafraum. Hier sind die Gegner meist gut geordnet.“

WM zeigt das Scheitern des Ballbesitzfußballs

Das ist die eine Seite. Die andere liegt sehr wohl in der Verantwortung der deutschen Mannschaft. Selbst wenn sie ihre Gegner mal in einem Moment der Unordnung erwischt, lässt sie diesen oft ungenutzt verstreichen. Nach dem letzten Gruppenspiel gegen die USA klagte Löw, dass seine Spieler zwei, drei Möglichkeiten versäumt hätten, sich gegen die sehr defensiven und gut organisierten Amerikaner schnell zu befreien. Und als sich viel versprechende Überzahlsituationen hätten herstellen lassen, „ist der Pass zum Abschluss nicht gekommen“, sagte Löw. „Wenn man das große Ziel erreichen will, wäre es schon gut, dass man beim letzten Pass und bei der Chancenverwertung ans Optimum kommt.“

Mario Götze ist einer der Ballverschlepper im deutschen Team.
Mario Götze ist einer der Ballverschlepper im deutschen Team.

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In der Theorie wollte Löw mit seiner Mannschaft in Brasilien wieder näher ans Ideal von 2010. In der Praxis spielen die Deutschen harmlosen Verschleppungsfußball: getragen statt getrieben, in den schlechten Momenten fast ein bisschen bräsig. Dass die Spanier in Brasilien bereits in der Vorrunde ausgeschieden sind, wurde auch als Beleg für das Scheitern des Ballbesitzfußballs gedeutet. Wenn man sich die Spiele der Deutschen anschaut, könnte man den Eindruck gewinnen, sie arbeiteten mit Nachdruck an dessen Rehabilitierung.

Deutschland hat die höchste Ballbesitz-Quote

In ihren bisherigen vier Begegnungen hatte die Nationalmannschaft im Schnitt 63 Prozent Ballbesitz. Das ist der beste Wert aller 32 WM-Teilnehmer. Auch die Passquote (84 Prozent) ist herausragend gut – sie ist jedoch weniger Beleg für die Qualität des deutschen Offensivspiels als vielmehr Ausdruck seiner Schwächen. Der beeindruckende Wert zeugt vor allem vom mangelnden Risiko im Spiel nach vorne: weil eine Mannschaft, die häufig in die Breite oder nach hinten passt, naturgemäß auf eine bessere Quote kommen wird als eine, die entschlossen den Weg nach vorne sucht.

„Ballbesitz nur um des Ballbesitzes willen ist nicht viel wert“, sagt Urs Siegenthaler, der Chefscout des Nationalteams. Der Schweizer unterscheidet daher zwischen Ballbesitz und Ballprogression. „Der Ballbesitz muss kombiniert werden mit dem klaren Ziel, auch zum Abschluss zu kommen“, sagt er. „Wer im Ballbesitz ist, muss immer eine Idee haben, wie er sich schnell dem gegnerischen Tor nähern kann. Diese Art des Fußballs wird erfolgreich sein.“

Nur ein Moment erinnerte an WM in Südafrika

Aber diese Art des Fußballs war von den Deutschen bei der WM bisher allenfalls in Ansätzen zu sehen. Das hängt auch mit dem System zusammen, das Joachim Löw seiner Mannschaft verschrieben hat, vor allem mit der Idee, die beiden Außenseiterpositionen mit defensiv denkenden Innenverteidigern zu besetzen. Dadurch, dass sie selten in die Spitze stoßen, fehlt für die Ballprogression eine wichtige Anspielstation in der Offensive – der tiefe Punkt auf Außen.

Als der Bundestrainer vor dem Achtelfinale gegen Algerien „Verbesserungen im Detail“ ankündigte, hat er explizit das Spiel im letzten Drittel, den letzten Pass und die letzte Konsequenz im Torabschluss genannt. Gegen die Nordafrikaner gab es zumindest einen Moment, der ein bisschen an die WM in Südafrika erinnerte. Das war, als Torhüter Manuel Neuer mit einem schnellen Abschlag eine gute Konterchance für André Schürrle einleitete. Man konnte Neuers entschlossenes Eingreifen schon fast als Misstrauensvotum gegen seine Kollegen Feldspieler deuten. Damit das deutsche Spiel mal richtig schnell wird, muss der Ball über das deutsche Mittelfeld hinwegfliegen.

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