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Zum Abschalten. Der Drang zur Selbstdarstellung hat nach den Spielern auch die Fans erfasst. Hier: französische Gockel.

© AFP

WM 2014 - Fans auf der Anzeigetafel: Mama, ich bin im Fernsehen!

Die WM in Brasilien ist auch eine Bühne für die Fans aus aller Welt. Dirk Gieselmann ist allerdings einigermaßen verwirrt vom Verhalten der Fußballanhänger sobald die eine Kamera sehen und fragt sich, ob das wirklich sein muss.

„In der Zukunft wird jeder 15 Minuten berühmt sein“, prophezeite Andy Warhol im Jahr 1968. Das muss eine recht kühne Behauptung gewesen sein. Damals, als es noch die echten Stars gab, gleißend helle wie Marlon Brando etwa, Elizabeth Taylor, Muhammad Ali oder eben Wahrhol selbst. Persönlichkeiten jenseits jeder Norm, die mit Talent, Fleiß und Selbstverachtung zum Ruhm gelangt waren. Damals, als der Höhenunterschied zwischen ihnen und ihren Bewunderern noch riesengroß war: sie oben, die unten. Nur so geht Anhimmeln.

Wir Nachgeborenen, denen stattdessen Ben Becker, Jenny Elvers, Axel Schulz und Harald Glööckler als Stars untergejubelt werden, müssen zugeben: Warhols Diktum hat sich annähernd bewahrheitet. Es sind jedoch nicht 15 Minuten Ruhm, sondern weit weniger, Tendenz fallend. Und wir sollten nicht von „fame“ reden wie Warhol, sondern von „shame“. Schande, Schmach und Scham.

Berühmt für einen kurzen, sehr peinlichen Moment

Three seconds of shame: Bei der WM in Brasilien kann darauf eigentlich jeder hoffen, wenn er sich nur bescheuert genug ausstaffiert. Mit einem Hahnenkamm in Landesfarben, einem angepinselten Bierbauch oder einem sauknappen Bikini hat er gute Chancen, für einen sehr kurzen, sehr peinlichen Moment von der Bildregie als regionaler Harlekin erfasst zu werden.

Das Erstaunliche ist: Diese Leute können, paralysiert vom Vorrunden-Aus ihrer Mannschaft, eben noch nassen Auges ins bodenlose Nichts starren – in dem Augenblick, da sie sich selbst auf der Anzeigetafel erblicken, verwandelt sich die Trauer in Ekstase. Sie springen auf und hampeln herum, als hätten sie soeben den WM-Pokal in der Tombola gewonnen.  Und es steht zu befürchten, dass sie sich tatsächlich als Teil der WM-Geschichte betrachten.

Warum sollte man Mitleid mit den Ausgeschiedenen haben?

Das noch Erstaunlichere ist: Dass man sich auch nach zwei Turnierwochen nicht an dieses Phänomen gewöhnt hat. Nicht nur, dass einem ständig vergegenwärtigt wird, in welch indignierenden Zeiten wir leben, da jeder Hans und Franz Selbstporträts („Selfies“) veröffentlicht, auf denen er verzweifelt versucht, nicht wie ein Niemand auszusehen und es gerade deswegen tut, mit Hühnerbrust und Entenmund. Es ist darüber hinaus unmöglich, auch nur einen wahrhaftigen Moment der Solidarität mit diesen Witzfans zum empfinden. Warum sollte man Mitleid mit den Ausgeschiedenen haben, wenn sie selbst nicht leiden?

Die Schuld daran trägt wie immer der verdammte Zeitgeist. Die Schuld trägt aber auch die sadistische Bildregie, die Japaner, Australier, Schweizer zum Explodieren bringt wie WM-Knallfrösche, nur um sie nach drei Sekunden wieder zu vergessen, und zwar für immer.

Andy Warhol war übrigens irgendwann gelangweilt von seiner sich erfüllenden Prohezeiung. Also formulierte er sie um: „In der Zukunft werden 15 Leute berühmt sein.“ Hoffentlich behält er noch mal recht. 15 würden wirklich vollkommen reichen.

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