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Ein guter Verteidiger springt so hoch, wie er muss. Mats Hummels verwertet eine Ecke von Toni Kroos zum 1:0-Siegtor.

© AFP

WM 2014 - Halbfinale Brasilien - Deutschland: Deutsches Erfolgsrezept: Ecken und Freistöße

Standardsituationen sind der große Trumpf der deutschen Nationalmannschaft bei dieser WM - ein Sinnbild für den neuen Pragmatismus von Bundestrainer Joachim Löw.

In den siebziger Jahren gingen Fans noch in Schlaghosen und Jeanskutten zum Fußball. Die Reporter bezeichneten sie als „Schlachtenbummler“ – ein Wort, das jedes Mal absurder klingt, je häufiger man es laut vorliest. Die „Schlachtenbummler“ hatten auch „Schlachtrufe“, einer war „Ecke, Tor, Ecke, Tor“. Sie schrien dies jedes Mal, wenn die von ihnen so geachteten „langen Kerls“ bei Ecken in den gegnerischen Strafraum trabten. Also groß gewachsene Verteidiger, die damals noch Manndecker hießen und nur in diesen kurzen Momenten von ihren Gegenspielern abließen.

Ausführung Kroos, Kopfball Hummels

Nicht nur die Gesänge, die Kleidung oder die Rufe waren für Bundestrainer Joachim Löw lange aus der Zeit gefallen. Auch die Ecken waren für ihn in der heutigen Zeit in etwa so modern wie Jeanskutten. Der Ästhet Löw sah in dem Stillleben eines ruhenden Balls keine große Kunst. Tore nach Standards waren für ihn Treffer zweiter Klasse. So verzichtete er nicht nur auf die Einübung von Eck- und Freistößen, er wettete mit seinem Co-Trainer Hansi Flick gar gegen einen deutschen Treffer nach diesen Situationen. Beim trainerinternen Wettkampf ging es um zwei Flaschen Rotwein. Löw war im Vorteil, weil Deutschland in der Post-Ballack-Ära oft schlecht flankte und köpfte. Bei der EM 2012 erzielte Deutschland nur ein einziges Tor nach einem Freistoß.

Auf der anderen Seite flogen kantige Männer in deutsche Strafräume und deutsche Mannschaften damit aus dem Turnier. Carles Puyol im Halbfinale 2010 gegen Deutschland, Didier Drogba im Champions-League-Finale 2012 und Sergio Ramos im Halbfinale 2014 jeweils gegen die Bayern köpften nach Ecken entscheidende Tore. Bei dieser WM dachte Joachim Löw nun um und ließ die Standards trainieren. Prompt trat Toni Kroos gestochen scharfe Bälle in den Sechzehnmeterraum auf die „neuen langen Kerls“. Mats Hummels verwandelte zweimal gegen Portugal und Frankreich, einmal Miroslav Klose gegen Ghana – allesamt wichtige Treffer auf dem Weg ins Halbfinale.

Löw: "Haben das geübt"

Unter der Leitung von Co-Trainer Flick probten die deutschen Spieler bereits im Trainingslager in Südtirol zunächst an der Taktiktafel, dann auf dem Trainingsplatz ihre Volten. „Wir bringen da unsere Ideen ein“, erzählte der Spezialist Kroos. Die Freistoßvarianten amüsierten die deutsche Elf dann derart, dass sie in der Vorrunde sogar ein Freistoßvarieté aufführte, bei dem mehrere Spieler nacheinander über den Ball sprangen. Mit dem Höhepunkt gegen Algerien, als Thomas Müller sogar einen Stolperer in die Aufführung einband. Löws Skepsis schimmerte zwar weiterhin in seiner Wortwahl durch: „Wir haben das geübt und Trainingszeit dafür geopfert.“ Dennoch vertraut er Flick und den Spielern. Seine Akzeptanz für ruhende Bälle kennzeichnet auch Löws neue Sachlichkeit, es ist ein weiterer pragmatischer Handgriff wie auch die Aufstellung von vier Innenverteidigern. Deutschland hat damit Erfolg, ist aber nicht allein: In den Viertelfinals fielen vier von fünf Toren nach Standardsituationen. Sie sind gerade in der Hitze von Brasilien der kraftsparendste Weg zum Torerfolg.

Und vielleicht ist Löws Kehrtwende eine späte Hommage an den Alttrainer Otto Rehhagel, der hauptsächlich mit Ecken und Abwehrkanten den Europameistertitel für Griechenland 2004 einfuhr. Wohlgemerkt den letzten Titel für einen deutschen Trainer bei einem großen Turnier.

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