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Mehr als ein Künstler? Neymar soll Brasilien zum Titel führen

© REUTERS

WM 2014 in Brasilien: Neymar: Der "neue Pelé" muss liefern

Im Gastgeberland der WM sind die Erwartungen an Neymar hoch. Die Brasilianer erwarten von ihrem Stürmerstar, der schon als neuer Pelé gefeiert wird, nicht weniger als den Titel.

Einmal, mitten in der zweiten Halbzeit, kam Neymar von dort, wo er schon immer am besten war. Vom linken Flügel. Neymar führte den Ball am Fuß und schlug einen Haken und dann noch einen, er driftete dabei immer weiter in die Mitte und kam keinen Meter nach vorn, er hob den Kopf und suchte nach anspielbereiten Kollegen, aber es fand sich keiner. Nach einer kleinen Ewigkeit chippte er den Ball in den freien Raum Richtung linke Eckfahne, aber da war niemand. Nur die Eckfahne.

In einer Mischung aus Ärger und Ratlosigkeit boxte Neymar mit der rechten Faust ins Nirgendwo. Einen Augenblick war es still, aber dann machten die Torcedores im Estádio do Morumbi von Sao Paulo, was sie in Brasilien eher selten tun. Sie pfiffen. Gegen ihre eigene Mannschaft und gegen den Mann, der sie doch in den kommenden Wochen zum Gewinn der Weltmeisterschaft führen soll.

Dieses letzte Testspiel gegen Serbien war ein schwerer Gang für Neymar da Silva Santos Júnior. Die Brasilianer hatten sich diesen Gegner ausgesucht, weil er in seiner Spielanlage und Philosophie eine einigermaßen exakte Kopie der Kroaten ist, und gegen die geht es am heutigen Donnerstag im WM-Eröffnungsspiel, ebenfalls in Sao Paulo, dann aber im Estádio Itaquerâo. Es war eine Generalprobe auf bescheidenem Niveau. Brasilien gewann 1:0, aber das Spiel glich über weite Strecken dem hilflosen Dribbling, als Neymar von seiner starken linken Seite kam. Ein paar Minuten später wechselte Trainer Luiz Felipe Scolari seinen großen Star aus, und die Sympathiebekundungen des Publikums hielten sich in Grenzen.

Nach dem Spiel gab Neymar zu, „dass das noch nicht reicht, wir müssen mehr bieten“. Aber das sagt sich so leicht in dieser seltsamen Atmosphäre dieses seltsamen Landes, in der eine gar nicht so geringe Minderheit die Weltmeisterschaft mit Streiks und Demonstrationen zum Erliegen bringen will und gleichzeitig eine gar nicht so große Mehrheit mit ähnlicher Vehemenz den WM-Titel einfordert.

Neymar muss liefern

In Brasilien feiern sie das schmächtige und 22 Jahre junge Bürschchen mit der schrägen Frisur schon als neuen Pelé. Das ist ein bisschen ungerecht – gegenüber Pelé, dem in seiner Zeit besten und komplettesten Spieler der Welt. Aber auch gegenüber Neymar, der auf einer ganz anderen Position spielt als der zentrale Imperator Pelé und keineswegs der beste und kompletteste Spieler dieser Zeit ist. Er ist es ja nicht mal beim FC Barcelona, wo er sich hinter Lionel Messi und Andres Iniesta und Xavi Hernandez anstellen muss.

Das vergangene Jahr war ein schwieriges Jahr. Neymar hat aus Barcelona keinen Titel mitgebracht, dafür aber ein paar Tattoos und die Erkenntnis, wie weit die brasilianische Liga entfernt ist von Europa, und das nicht nur geographisch.

In der Primera División hat er in 26 Spielen neun Tore geschossen und nur fünfmal über 90 Minuten auf dem Platz gestanden. Seinen einzigen großen Auftritt hatte er in der Champions League, mit drei Toren beim 6:1-Sieg über die nicht satisfaktionsfähige Mannschaft von Celtic Glasgow.

Neymar ist wie Pelé beim FC Santos groß geworden und es von Kindheitstagen gewohnt, vergöttert und hofiert zu werden, und dass er irgendwann mal nicht die führende Persönlichkeit einer Mannschaft sein könnte, ist ihm nie in den Sinn gekommen.

Hoher Druck ohne Ballastminderung

Es sagt einiges über die Versäumnisse der Vergangenheit im Fußballland Brasilien, dass es sein Schicksal in die Füße eines auf Effekthascherei bedachten Artisten legt. Neymar ist ein begabter Dribbler mit einem gottgegebenen Talent, das Publikum zu unterhalten. Aber ist er auch ein Anführer? Einer, an dem sich die Mannschaft in kritischen Situationen aufrichten kann?

Vor einem Jahr stand Neymar vor einer ähnlichen Situation. Es stand der zur WM-Generalprobe aufgebrezelte Confed-Cup an, und die Nation listete penibel die Werbeverträge Neymars auf und zählte die Minuten, in der ihre Nummer 10 schon kein Tor mehr für die Seleçao geschossen hatte, und davon hatten sich schon 842 angesammelt vor dem Eröffnungsspiel gegen Japan. Neymar steckte das mit bemerkenswerter Ruhe weg und ließ nur drei weitere Minuten verstreichen, bis er im Eröffnungsspiel gegen Japan das erste und für das Turnier wegweisende Tor schoss.

Am Ende gewann Brasilien den Cup, Neymar wurde zum besten Spieler des Turniers gewählt, und das Land war glücklich.

Nun besteht da allerdings ein gewaltiger Unterschied zwischen einer Weltmeisterschaft und dem Confed-Cup, bei dem sich zwar auch keiner blamieren will, aber Generalproben sind nun mal zum Proben da. Diese Phase ist bei einem WM-Turnier überwunden.

Der Druck ist um ein Vielfaches höher, und die besonderen Umstände in Brasilien tragen nicht unbedingt zur Ballastminderung bei. Die Brasilianer wissen, was auf dem Spiel steht, nicht nur in Sachen Fußball. Sollte das erste Spiel verloren gehen, könnte das im günstigsten Fall Desinteresse erzeugen und im ungünstigsten die noch gespaltene Stimmung im gesamten Land vollends kippen. Welche Konsequenz das hätte, mag sich im Augenblick niemand vorstellen – nicht bei der Fifa, nicht in der brasilianischen Mannschaft und erst recht nicht in der Regierung.

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