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Zum Abschied sagte der Staatspräsident zum Kapitän: „Du weißt, wir erhoffen uns viel, aber deswegen müsst ihr nicht in einen Krieg ziehen.“

© dpa

WM 2014: Fußball-Land Uruguay: Himmelblau jauchzend

Wahrscheinlich gibt es auf der ganzen Welt kein Volk, das sich so geschlossen für den Fußball begeistert wie die Uruguayer. Eine Reportage über den zweifachen Weltmeister und seinen Mythos.

Das Stadion, das mal das größte der Welt war, hat sich gut versteckt. Hinter Bäumen, die im Lauf der vergangenen 84 Jahre dicht und so hoch gewachsen sind. Die hellblau gestrichene Balustrade reicht gerade fünf Meter nach oben. Das Dach? Überdeckt die halbe Haupttribüne. Die Flutlichtmasten sind noch richtige Masten, könnten aber auch durchgehen als größere Laternen. Und die Eintrittskarten werden aus schießschartenähnlichen Öffnungen verkauft, von einem alten Männlein, das wahrscheinlich noch jeden kennt aus der guten, alten Zeit.

Es sieht so aus, als sei diese Zeit stehen geblieben im Centenario, dem uruguayischen Nationalstadion in einem Park mitten in der Hauptstadt Montevideo. Das ist ein vordergründiger, ein trügerischer Eindruck. Denn der Fußball hinter den bröckelnden Mauern, er lebt. Und wie!

Er lebt mit Diego Forlán und Edinson Cavani und Luis Suárez, dem vielleicht gefährlichsten Stürmer der Welt, und dass ihn kurz vor der WM eine Knieverletzung heimsuchte, hat die uruguayischen Zeitungen mehr beschäftigt als die Krise in der Ukraine oder das in der restlichen Welt doch recht umstrittene Gesetz zur Marihuana-Legalisierung, das der Staatspräsident José Alberto Mujica auf den Weg gebracht hat.

Mujica ist in diesen Tagen der einzige Uruguayer, der es an Popularität mit Forlán, Cavani und Suárez aufnehmen kann. Als Dienstwagen fährt der Präsident einen Opel Corsa, er spendet 90 Prozent seines Präsidentengehalts, und natürlich ist er an diesem milden Winterabend ins Centenario gekommen zur Verabschiedung der Nationalmannschaft, die sie hier alle Celeste nennen, die Himmelblaue.

Die uruguayischen Trikots leuchten auch an diesem Abend so blau wie der Himmel über Fortaleza leuchten wird, am Samstag beim ersten WM-Spiel gegen Costa Rica. Über dem aufgestickten Emblem thronen vier Sterne, was auf den ersten Blick ein wenig irritierend wirkt, schließlich hat Uruguay erst zweimal die Copa gewonnen, in den Jahren 1930 und 1950.

Der Nationaltrainer Oscar Washington Tabárez kennt die Fragen nach den vier Sternen, aber er beantwortet sie immer wieder gern. „Wir zählen auch die beiden Olympiasiege von 1924 und 1928 mit“, sagt der Maestro aus Montevideo. Nach den beiden Olympiasiegen durften die Uruguayer 1930 die erste WM ausrichten. Als Gastgeber der Welt bauten sie das Centenario mit der für die damalige Zeit unfassbaren Kapazität für 100.000 Zuschauer. Aber die Welt hatte keine Lust auf die lange Reise ins weit entfernte Uruguay. Zur Party kamen nur 13 Gäste, darunter vier aus Europa, die großen Fußball-Nationen England, Italien und Deutschland fehlten.

Uruguay siegte im Finale dieser ersten WM 4:2 gegen den Nachbarn Argentinien, und seitdem ist das Estadio Centenario ein Monument der nationalen Andacht. Es passen nicht mehr wie damals 100.000 Zuschauer rein, aber der Geist der Vergangenheit weht über jede einzelne Steinstufe. Die Tribünen und Kurven tragen die Namen Olimpica, Colombes, America und Amsterdam – Reminiszenzen an die Orte großer Triumphe.

Vor dem Abflug nach Brasilien haben sich die Uruguayer Slowenien als Gegner für ein letztes Testspiel eingeladen. Zur Verabschiedung kommen Männer, Frauen, Kinder, Greise, alle im himmelblauen Trikot, viele tragen um die Schultern eine Nationalfahne, die es bei den fliegenden Händlern für 100 Pesos gibt, gut drei Euro.

Bevor es losgeht, stapft Staatspräsident Mujica auf den Rasen, ein 79 Jahre alter Señor mit gewaltigem Schnauzbart, das Publikum empfängt ihn mit tosendem Applaus. Mujica posiert für ein Mannschaftsfoto, er überreicht eine gerahmte Nationalfahne als Abschiedsgeschenk an Kapitän Diego Lugano und plaudert ein bisschen mit ihm: „Du weißt, wir erhoffen uns viel, aber deswegen müsst ihr nicht gleich in einen Krieg ziehen. Aber du sollst wissen, dass das ganze Volk hinter euch steht!“ Aus den Lautsprechern ertönen die ersten Takte der Nationalhymne und eine ehrfürchtige Stille legt sich über das Centenario. Wie auf Kommando singen sie alle mit. Ja, sie grölen nicht, sie singen, liebe- und hingabevoll treffen alle den Ton, und mit der instrumentellen Verstärkung aus der klapprigen Lautsprecheranlage klingt das wie eine Grammophonplatte aus den zwanziger Jahren: „Wir haben es verdient, dass die Tyrannen zittern! Freiheit schreiben wir auf unsere Fahne! Und für die Freiheit sterben wir!“

Warum spielt Uruguay eine so große Rolle im Weltfußball?

Wahrscheinlich gibt es auf der ganzen Welt kein Volk, das sich so geschlossen für den Fußball begeistert wie die Uruguayer. An Montevideos Magistrale, der Avenida 18 de Julio, versammeln sich alle paar Meter Männer und Frauen an kleinen Holztischen, sie verkaufen und tauschen Figuritas, wie hier die Panini-Sammelbildchen zur WM heißen. Überall werden himmelblaue Trikots angeboten und Poster mit der Aufschrift: „In den Träumen von drei Millionen wird eins immer bleiben: Maracana 1950 – Maracana 2014.“

Ach, Maracana ... Das entscheidende Spiel bei der ersten WM in Brasilien. Vor 200.000 Zuschauern in Rio de Janeiro gab es dieses sagenumwobene 2:1 über die schon als Weltmeister ausgerufenen Brasilianer. Alcides Ghiggia schoss das Siegtor und sprach später den schönen Satz, der in diesen Tagen immer wieder zitiert wird: „Ich bin neben dem Papst und Frank Sinatra der einzige Mensch, der das Maracana zum Schweigen gebracht hat.“

Alcides Ghiggia steht vor seinem 88. Geburtstag und ist als einziger der Helden von 1950 noch am Leben. Die Nation hat ihm eine Briefmarke gewidmet und einen Stern auf dem Paseo Cultural, einem Walk of Fame in der Altstadt von Montevideo. Vor zwei Jahren ist er bei einem Verkehrsunfall schwer verletzt worden, hat sich aber so weit erholt, dass er die Celeste als Ehrengast nach Brasilien begleiten kann. „So eine Weltmeisterschaft ist immer etwas Besonderes“, hat Ghiggia in einem seiner raren Interviews gesagt. „Und jedes Mal frage ich mich, wie Tabárez das macht, dass wir so gut mitspielen. Wahrscheinlich, weil er immer wieder neue Talente hochzieht.“

Oscar Washington Tabárez ist der Vater des überraschenden vierten Platzes bei der WM 2010 in Südafrika, als erst die Niederländer den Uruguayern den Weg ins Finale versperrten. Er hat es still genossen und doch sofort als Verpflichtung begriffen für ein Da Capo in diesem Sommer. So viele Talente hat er seitdem nicht dazugeholt, aber da sind immer noch Forlán, Cavani und Suárez, wenn er denn rechtzeitig fit wird. Forlán wurde 2010 zum besten Spieler gewählt, Cavani und Suárez zählen zu den begehrtesten Stürmern der Welt. Und alle zusammen stehen sie für das kleine Wunder am Rio de la Plata. Für den großen Erfolg diesiger winzigen Nation mit drei Millionen Einwohnern, mit 200.000 Fußballspielern in 1000 Klubs. Warum nur spielt Uruguay seit Jahrzehnten eine so große Rolle im Weltfußball?

Wer Antworten sucht, sollte sich auf den Weg machen zum Complejo Celeste, ins Trainingszentrum des uruguayischen Fußball-Verbandes. Fünf Fußballplätze und alles, was sonst noch dazugehört, nur ein paar Autominuten entfernt von Montevideos internationalem Flughafen Carrasco. Der Complejo ist Oscar Washington Tabárez’ zweite Heimat, nicht nur während der WM-Vorbereitung. Er ist auch sonst so gut wie jede Woche da und mischt sich ins Tagesgeschäft ein.

Weil die Uruguayer nicht viele Fußballspieler haben, müssen sie die wenigen sehr guten möglichst früh und gut ausbilden. Da passt es gut, dass sich alles für den Fußball Relevante in einer einzigen Stadt abspielt. 14 von 16 Klubs der Primera Division kommen aus Montevideo. Vereine und Verband haben vereinbart, dass die größten Talente dreimal in der Woche gemeinsam im Complejo Celeste trainieren.

Auch Forlán und Cavani sind hier groß geworden. Bei der Abschiedszeremonie gegen Slowenien sind die beiden mal wieder die Auffälligsten in einem nicht besonders guten Spiel. Der Platz ist ein ziemlicher Acker und beschert dem Ball seltsame Wege. Egal, jede halbwegs gelungene Aktion wird mit frenetischem Jubel bedacht. Uruguay spielt nie besonders schön, aber immer sehr effektiv, oft reicht ein besonderer Moment zur Herbeiführung der Entscheidung. Nach einer halben Stunde flankt Forlán von links, Cavani hält den Kopf hin, und schon liegt Uruguay vorn. Kurz vor Schluss dasselbe Spielchen von der rechten Seite. Diesmal wird Cavanis Versuch abgeblockt, aber Cristian Stuani setzt nach und macht das Tor zum 2:0-Endstand. Der Rest geht unter in Sprechchören: „Vamos Uruguay!“, „Olé!“ und „Campeones!“

Forlán sagt, das sei ein schöner Abschied gewesen. Er reise jetzt mit einem guten Gefühl nach Brasilien, denn „wir haben ein ganzes Land hinter uns und wollen auf unserem höchsten Niveau spielen, um dieses Land glücklich zu machen“.

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