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Sport: Zehn Hiebe für unerlaubtes Applaudieren

Das schwere Berufsleben eines afghanischen Sportreporters

Kabul/Köln. „Gooood moooorning, Afghanistan!“ Auch an diesem Morgen dröhnt der stadtbekannte Jingle aus den vielen Lautsprechern mitten in den Großstadtwirrwarr Kabuls. Es ist 8.30 Uhr. Die Cafés am Straßenrand sind gefüllt, die Radios laufen in voller Lautstärke. So laut, dass das beliebte Radioprogramm an jeder Straßenkreuzung zwischen den brüchigen Häuserfronten gut zu verstehen ist. Selbst dort, wo die Kinder mit Lumpenbällen in den Hinterhöfen gerade ihre eigene Fußballliga austragen. Omid Marzban bereitet sich derweil wieder auf seine große Stunde vor. Keine fünf Minuten zu Fuß ist der 19-Jährige von der Innenstadt Kabuls entfernt und doch in einer anderen Welt. Er hat riesige Kopfhörer auf und sitzt im Tonstudio seines Senders „Good Morning Afghanistan“.

Marzban ist Sportreporter. Der einzige professionelle Sportreporter Afghanistans. Gleich wird er seinen Landsleuten die neuesten nationalen Sportnachrichten vorlesen. „Das ist verdammt stressig“, stöhnt er. Nicht etwa das Vorlesen meint er, sondern die zahlreichen Reisen der letzten Monate. Marzban ist überall selbst vor Ort. An einem Tag legt er schon mal tausend Kilometer über den Gebirgszug Hindukusch zurück, um aus einem Boxlager in einem abgelegenen Dorf im Norden Afghanistans zu berichten. Nur weil es dort einen neuen nationalen Hoffnungsträger geben soll, der in einem ausgebauten Keller Tag und Nacht trainiert. „Sport ist für uns Afghanen momentan sehr wichtig, um wieder eine Identität zu erlangen. Wir lieben Boxen, aber vor allem Fußball.“ Eine Sportart, die auch unter den Taliban praktiziert, aber gleichzeitig unterdrückt wurde.

Das Regime der „Gotteskrieger“ instrumentalisierte das Spiel, um Macht zu demonstrieren. Bei über 40 Grad Celsius im Schatten durften Spieler nur in langen Hosen und mit Vollbärten antreten. Bei Toren zu jubeln, war auf den Rängen verboten. Wer bei einem Tor vor Begeisterung aufschrie, neben dem stand schnell ein Mann mit finsterer Miene. „Die Auspeitscher haben an Ort und Stelle die Leute verprügelt.“ Zehn Hiebe gab es für unerlaubtes Applaudieren, oder wenn man der Anordnung des Stadionsprechers mitten im Spiel nicht folgte: „Spieler und Fans haben jetzt zu beten.“ In der Halbzeit wurden öffentliche Hinrichtungen ausgeführt.

„Heute ist Fußball in Afghanistan wieder eine populäre Freizeitbeschäftigung“, sagt Marzban. Erst vor wenigen Wochen war er 23 Stunden in einem Bus unterwegs, um von einem Fußball-Länderspiel in Turkmenistan zu berichten. Der klapprige Reisebus, in dem auch die Nationalmannschaft Afghanistans saß, hatte keine Heizung. Beinahe hätten sie alle noch darin geschlafen. Nur mit Glück hatten sie hinter der Grenze die Absteige „Black Gold“ aufgetan und sich wenige Stunden vor Anpfiff ausgeruht.

„Trotzdem hat sich die Reise gelohnt“, sagt Marzban. In Turkmenistan durfte Afghanistan an der WM-Qualifikation für 2006 teilnehmen. 0:11 verloren die Afghanen das Spiel und das Rückspiel in Kabul wenig später mit 0:2. Doch beide Niederlagen machten Marzban wenig aus. Immerhin hatte man einen großen Erfolg gefeiert. Nach 24 Jahren hatte in Kabul wieder ein internationales Fußballspiel stattgefunden. „Ein tolles Erlebnis. Ich werde es nie vergessen“, sagt Marzban. Am liebsten hätte er jedem der 35 000 Zuschauer einzeln sein Mikrofon unter die Nase gehalten. Endlich durfte er die Begeisterung für Millionen Hörer einfangen – und das live.

Als junger Journalist hat er Visionen. Er will „den ersten Sieg Afghanistans bei einem Fußball-Länderspiel sehen“. Spätestens dann weiß er nämlich, dass das Taliban-Regime endgültig der Vergangenheit angehört. Unter den Gotteskriegern durften nämlich nur Verteidigungsaktionen wohlwollend beklatscht werden. Eine Rettungsaktion der Abwehr galt den Taliban im Gegensatz zu einem Tor immer mehr als das Werk Allahs.

Christoph Bertling

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