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Schmach

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Zu Besuch in Cordoba: Der Ort der Schmach drei Jahrzehnte danach

Tagesspiegel-Autor Christian Hönicke hat sich 30 Jahre nach der Schmach von Cordoba in die zweitgrößte argentinische Stadt begeben und ist dort auf gleichermaßen Vertrautes wie Seltsames gestoßen.

30 Jahre nach dem Spiel Deutschland gegen Österreich hat sich das Leben in Cordoba inzwischen weitgehend normalisiert. Die nach Buenos Aires zweitgrößte argentinische Stadt ergeht sich wieder im althergebrachten Stadtleben, das sich wie in allen anderen Siedlungen des Landes auf Straßen abspielt, die nach dem verschnörkelten Muster eines Schachbretts angelegt wurden. Per Auto und Pferdewagen staut sich der Zentralargentinier durch das Einbahnstraßensystem, zieht eine Gummizahnfleischprothese aus einem Ein-Peso-Shop, nutzt den Kilorabatt in den unzähligen Steakhäusern oder lässt sich seine Messer auf dem Gehsteig an einem per Fahrrad angetriebenen Schleifstein schärfen. Für alle darüber hinaus entstehenden Lebenssituationen sind in Cordoba praktischerweise eigene Stadtteile angelegt worden: So gibt es den Tapeten-Kiez, das Schweinehälftenviertel und das Quartier mit unnützem Kunstschnickschnack.

Doch wer genau hinschaut, entdeckt im Straßenbild noch immer vielfältige Reminiszenzen an die Teilnehmerländer des legendären WM-Spiels von 1978. Dass sich Cordoba seiner geschichtlichen Bedeutung durchaus bewusst ist, zeigt sich schon anhand der Einwohnerstruktur: Neben 1,3 Millionen Zweibeinern leben hier doppelt so viele Vierbeiner, was so ziemlich genau dem Mensch- Hund-Verhältnis in der deutschen Hauptstadt entspricht. Eine weitere Anleihe an Berlin ist der momentan stattfindende Komplettumbau Cordobas, wobei sich offensichtlich allein die Firma des Bürgermeistervetters an sanierungsbedürftigen Museen, Kirchen und Palästen gesundstoßen darf. Die Haupteinkaufsmeile an der zentralen Plaza San Martin ist ebenfalls den berühmten Verlierern gewidmet und der Fußgängerzone in Bad Oeynhausen nachempfunden. Als Hommage an die siegreichen Österreicher darf dagegen verstanden werden, dass im örtlichen Goethe-Institut Hochdeutsch weder gesprochen noch verstanden und stattdessen deutsche Hochliteratur zu Tiefstpreisen verscherbelt wird. Darüber hinaus erhalten Skilehrer aus Kärnten im Großraum Cordoba offenbar einen Hotelzimmer-Discount und so die Möglichkeit, sich an diesem Ort des größten österreichischen Triumphs lautstark bei ihren deutschen Zimmernachbarn darüber zu beschweren, „dass ihr nicht einmal eure 16 Bundesländer kennt“.

Einen Beitrag zur interkulturellen Aufarbeitung des Spiels leistet schließlich das örtliche Bankensystem. Es fußt auf einer Melange der bedeutendsten deutschen (Pedanterie) und österreichischen (Satire) Errungenschaften und ermöglicht so den reibungslosen Geldtransfer in der auf die Blütezeit des Enzians ausgerichteten Geschäftszeit von 12.30 bis 12.31 Uhr.

Nur über ein zentraleuropäisches Thema mag man in Cordoba nicht so gern reden. Wer die sehr von ihren Fußballkünsten überzeugten Argentinier zum Verstummen bringen will, braucht nur ein Wort zu sagen: „Lehmann“. Berlin 2006 ist nämlich Cordobas Cordoba.

Christian Hönicke

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