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Drin oder nicht drin? Selbst 14 Kameras des englischen Fernsehsenders BBC konnten das umstrittene Tor zum 3:2 nicht zweifelsfrei dokumentieren. Foto: imago/United Archives

© imago/United Archives

Zum Jubiläum des WM-Finals von 1966: Latte, Linie, Tor - wer weiß das schon?

Auf den Tag genau vor 50 Jahren wird England durch ein umstrittenes Tor von Geoffrey Hurst Fußball-Weltmeister. Wir erzählen das Finale gegen Deutschland noch einmal nach - als wäre es gerade zu Ende gegangen.

Was war das für ein dramatischer Nachmittag in London! Im Wembley-Stadion, der Kathedrale des Fußballs, hat die deutsche Nationalmannschaft am Sonntag zwar das Endspiel um die Weltmeisterschaft verloren und doch sehr viel gewonnen. An Sympathien, die weit hinausgehen über den Sport im Allgemeinen und den Fußball im Besonderen. 4:2 (1:1, 2:2) hieß es nach regulären 90 Minuten plus zweimal 15 Minuten Verlängerung für die Engländer. Und die Vorentscheidung fiel durch ein Tor, von dem keiner der knapp 100 000 Zuschauer im Stadion mit Sicherheit sagen konnte, ob es überhaupt eines war.

Über dieses 3:2, erzielt vom dreifachen Torschützen Geoffrey Hurst in der ersten Halbzeit der Verlängerung, wird es noch einige Diskussionen geben. Der Stürmer von West Ham United hatte aus der Drehung scharf und hoch geschossen, Deutschlands Torhüter Hans Tilkowski vielleicht noch die Fingerspitzen dazwischenbekommen. Mit gewaltiger Wucht schlug der Ball gegen die Latte und flog zurück zu Boden. Ob er nun auf der Torlinie aufprallte oder dahinter, das war die große Frage. Der Schweizer Schiedsrichter Gottfried Dienst entschied zunächst nicht auf Tor, beriet sich dann aber mit seinem Linienrichter, Tofik Bachramow aus der Sowjetunion. Der hatte den Ball offenbar hinter der Linie gesehen, sodass Dienst seine Meinung änderte und auf die Mitte zeigte: Tor, 3:2 für England!

Der englische Fernsehsender BBC hatte beim Finale zwar 14 Kameras im Einsatz, aber keine von ihnen hatte die umstrittene Szene zweifelsfrei dokumentiert. Vielleicht wird es in einer fernen Zukunft einmal möglich sein, eine Kamera im Tor zu platzieren und damit auch solche strittigen Szenen zu klären. Bis dahin aber trägt weiterhin der Schiedsrichter die alleinige Verantwortung, und die Spieler haben sich danach zu richten.

So umstritten diese Entscheidung auch war, die deutschen Spieler nahmen sie mit bewundernswerter Sportlichkeit hin. Zaghafte Proteste der jungen Heißsporne Wolfgang Overath, Wolfgang Weber und Franz Beckenbauer beendete der Kapitän Uwe Seeler mit einer energischen Geste, sie sollte in etwa bedeuten: Akzeptiert gefälligst die Entscheidung des Schiedsrichters! Es war diese Fairness, die dem englischen Publikum höchsten Respekt abnötigte. Bei ihrer Ehrenrunde bekam die deutsche Mannschaft fast genauso viel Applaus wie die englische, als Königin Elizabeth II dem englischen Kapitän Bobby Moore die Coupe Jules Rimet überreichte.

Ja, diese englische Mannschaft mit den überragenden Einzelkünstlern Moore, Bobby Charlton und Alan Ball ist ein würdiger Weltmeister. Aber Deutschland war ein würdiger Finalist, eine junge Mannschaft, die wunderschönen Fußball spielte und darüber hinaus ihre Nation auf beste Weise repräsentierte. Und das ist 21 Jahre nach dem furchtbaren und gerade in England noch nicht vergessenen Krieg mehr, als vor ein paar Wochen zu erhoffen war.

Es hätte sogar noch mehr sein können, denn die deutsche Mannschaft begann dieses Finale so unbekümmert, als ginge es nicht gegen einen erklärten Angstgegner, gegen den es in der Länderspielgeschichte noch keinen einzigen Sieg gegeben hatte. Bundestrainer Helmut Schön hatte seine Wunschformation aufgeboten, also auch den Dortmunder Tormann Tilkowski, obwohl der sich im Halbfinale gegen die UdSSR böse an der linken Schulter verletzt hatte. Tilkowski wurde dann auch immer wieder von kopfballstarken Engländern in Luftkämpfe verwickelt. Schon nach sieben Minuten ging er nach einem Duell mit Hurst zu Boden und musste ein paar Minuten lang behandelt werden. Den deutschen Spielern stockte der Atem, denn im Falle einer Verletzung hätte Tilkowski keinesfalls durch den Bremer Ersatztorhüter Günter Bernard ersetzt werden dürfen. Die Statuten des Weltverbandes Fifa schreiben für diesen Fall vor, dass ein Feldspieler das Torwarttrikot überstreifen muss. Deutschland hätte das Spiel in Unterzahl zu Ende bringen müssen, und das im Finale um die Weltmeisterschaft! Vielleicht sollte die Fifa ihr eigenes Reglement noch einmal überdenken und zur nächsten Weltmeisterschaft in vier Jahren in Mexiko den Mannschaften die Auswechslung von ein oder zwei Spielern genehmigen.

Glücklicherweise berappelte sich Tilkowski schnell wieder und war schon zwei Minuten später bei einem Distanzschuss von Martin Peters auf dem Posten. Seine Vorderleute spürten den sicheren Rückhalt und unternahmen immer wieder eigene Vorstöße. Eine erste Chance vergab Siegfried Held noch überhastet, aber schon die zweite gefährliche Situation brachte in der zwölften Spielminute die deutsche Führung. Und das passierte so: Helds Flanke segelte von halblinks in den englischen Strafraum, Verteidiger Ray Wilson klärte mit dem Kopf, allerdings genau vor die Füße von Helmut Haller. Der Mann vom FC Bologna schoss sofort mit rechts aus der Drehung, und unhaltbar für Torhüter Gordon Banks schlug der Ball im linken Eck ein. Es war bereits Hallers fünftes Tor bei diesem Turnier.

Zum ersten Mal bei dieser Weltmeisterschaft lagen die Engländer zurück, und entsprechend verwirrt reagierten sie darauf. Die deutsche Mannschaft schien das Spiel im Griff zu haben, und ihre vielleicht 10 000 Fans im Stadion sangen schon: „Ri Ra Ro, England ist k.o.!“ Das war dann doch ein wenig voreilig. Die Deutschen verpassten die Chance zum Nachsetzen, und nur sechs Minuten nach dem Führungstor leistete sich Overath im Mittelfeld ein überflüssiges Foul an Moore. Der englische Kapitän führte den Freistoß selbst aus, direkt auf Hurst, der im Strafraum völlig ungedeckt stand und mit dem Kopf zum 1:1 traf. Hurst war ja erst im Viertelfinale durch eine Verletzung des eigentlich gesetzten Jimmy Greaves in die Mannschaft gekommen und hatte seinen Platz dann nicht mehr hergegeben. Tilkowski monierte zaghaft eine Abseitsstellung, aber auch das war beim Studium der Fernsehbilder nicht genau zu erkennen.

Jetzt war es ein offenes Spiel. Der kleine Seeler sprang nach einer Flanke von Karl-Heinz Schnellinger höher als die langen englischen Verteidiger, aber Banks parierte seinen Kopfball. Auf der anderen Seite reagierte Tilkowski genauso gut nach einem Kopfball von Hurst. Dann waren wieder die Deutschen dran: Overath und Lothar Emmerich scheiterten innerhalb von Sekunden an Banks. Dann riss Tilkowski nach einem Schuss des Liverpoolers Roger Hunt die Fäuste hoch. Und kurz vor Ende der ersten Halbzeit zwang Seeler mit einem Weitschuss Banks erneut zu einer tollkühnen Parade.

In der zweiten Halbzeit gab es zwar nicht mehr so viele hochklassige Szenen, aber die Engländer verlagerten das Geschehen immer weiter in die deutsche Hälfte des Platzes. Das lag vielleicht auch an einer riskanten taktischen Maßnahme von Helmut Schön. Der Bundestrainer hatte den jungen Beckenbauer, bis dahin die Sensation des Turniers, zur Bewachung des englischen Regisseurs Charlton abgestellt. Diese Aufgabe erledigte der 20-jährige Münchner ganz ordentlich, ohne allerdings Charlton komplett auszuschalten. Entscheidender aber war, dass Beckenbauers Spielkunst im Aufbau fehlte. Der Mann hat das Trikot mit der Nummer 4 weltberühmt gemacht, aber im Finale blieb er unter seinen Möglichkeiten. Helmut Schön wäre wohl besser beraten gewesen, Beckenbauer mit der Rolle des Hamburgers Willi Schulz zu betrauen. Als zentrale Abwehrfigur ohne Gegenspieler hätte er seine technischen und strategischen Fähigkeiten sehr viel besser einbringen können.

So aber gestalteten vor allem die Engländer das Spiel. Ohne Charltons Regie, aber mit der Intelligenz von Bobby Moore, der Wucht von Nobby Stiles und der Improvisation von Alan Ball. Die deutsche Mannschaft mühte sich dagegen, aber Helmut Haller gingen wie Wolfgang Overath die Kräfte aus, Beckenbauer war defensiv gebunden, und dazu kam, dass auf dem linken Flügel Lothar Emmerich ein Totalausfall war. Der Dortmunder hatte in der Vorrunde gegen Spanien das vielleicht spektakulärste Tor des Turniers geschossen, aber schon im Halbfinale gegen die Sowjetunion war er kaum in Erscheinung getreten. Albert Brülls vom AC Brescia wäre im Finale einsatzbereit gewesen, aber Bundestrainer Schön vertraute wie sein englischer Kollege Alf Ramsey dem Grundsatz: Never change a winning team! Bei den Engländern ging es mit Hurst gut, bei den Deutschen mit Emmerich nicht. Der Dortmunder war im Finale nun der schwächste Spieler auf dem Platz, geschlagen mit technischen Fehlern, und wenn er einmal aufs Tor schoss, flog der Ball schon mal in Richtung Eckfahne. Es war seine linke Seite, über die die Engländer mit dem Dribbelkünstler Alan Ball und dem Außenverteidiger George Cohen ihre gefährlichsten Angriffe vortrugen.

Die englische Überlegenheit wurde immer erdrückender, und zwölf Minuten vor Schluss schlug sich das auch im Spielstand nieder. Der Anlass war vergleichsweise banal. Hurst schoss von der Strafraumgrenze, der Bremer Horst-Dieter Höttges ging dazwischen, und was als rustikale Abwehraktion geplant war, geriet zum Querschläger. Der Ball fiel vor die Füße von Martin Peters, und der Mittelfeldspieler von West Ham United hatte keine Mühe, zum 2:1 einzuschieben.

War das schon die Entscheidung? Nein! Noch einmal stürmte die deutsche Mannschaft, mit Kräften, die eigentlich gar nicht mehr da waren. Sie hatte ein wenig Glück, dass Hunt, Charlton und Peters ihre Konterchancen verpassten, aber dann war da noch diese letzte Gelegenheit. Wütend protestierten die Engländer, als Schiedsrichter Dienst nach einem Foul von Jackie Charlton gegen Siegfried Held auf einen letzten Freistoß entschied. Emmerich schoss mit Gewalt Richtung Tor, der Ball wurde abgefälscht, zu Held, der in die Mitte weitergab, wo urplötzlich Wolfgang Weber auftauchte, ausgerechnet Weber, der doch für das Verhindern von Toren zuständig war. Der Kölner machte einen letzten Schritt und grätschte den Ball ins Tor, es war sein erstes im 18. Länderspiel.

Torhüter Banks protestierte wild, er wollte zuvor ein Handspiel von Schnellinger gesehen haben, aber Schiedsrichter Dienst ließ sich nicht beirren. Kurz darauf pfiff er ab und gönnte den Mannschaften fünf Minuten zur Erholung. Bevor es zur Verlängerung kam.

Waren die Engländer geschockt? Wahrscheinlich. Aber entkräftet waren vor allem die Deutschen. Das Spiel war ihnen an die Substanz gegangen, und die kurze Pause vor der Verlängerung sagte alles über die Kräfteverhältnisse. Während sich die erschöpften Deutschen wie Höttges, Weber, Schnellinger oder Beckenbauer massieren ließen, trippelten die Engländer schon auf dem Rasen, als ob sie es gar nicht erwarten könnten, dass es endlich weitergehe.

Zur Geschichte des deutschen Kampfes gehört eben auch die Episode, dass dieser Kampf sehr viel Substanz gekostet hatte. In der Verlängerung spielten fast nur noch die Engländer. Ihre erste Chance vergab der kleine Rotschopf Ball, seinen Schuss lenkte Hans Tilkowski über die Latte. Danach hatte Bobby Charlton Pech, als er nur den Pfosten traf. Und dann passierte, was wohl passieren musste. Wenn auch sehr umstritten.

Es war wieder der Irrwisch Ball, der auf der rechten Seite entwischt war, er flankte aus vollem Lauf auf Hurst. Willi Schulz stand ein bisschen zu weit weg und konnte nur noch mit ansehen, wie Hurst den Ball stoppte, sich in Richtung Tor drehte und schoss. Und dann? Wer weiß das schon. Der Ball schlug gegen die Latte, prallte auf den Boden, Weber köpfte ihn ins Aus, aber da jubelten neben ihm schon der Engländer Roger Hunt, der sich gar nicht mehr um den Abpraller bemüht hatte.

Tor oder nicht Tor? Auf der Pressetribüne drängten sich alle Reporter um den Bildschirm der Kollegen von der BBC, aber da war auch nichts zu sehen. In Amerika, beim Football oder Eishockey, gibt es schon eine sogenannte Zeitlupe – Fernsehbilder, die in verlangsamter Form einen Vorgang wiedergeben. So weit ist der Fußball noch nicht, deswegen bleibt nur die Spekulation. Schiedsrichter Dienst erkannte jedenfalls auf Tor, und das war dann auch schon die Entscheidung.

Zur Geschichte des Finales gehört aber auch das Eingeständnis, dass die deutsche Mannschaft in der Verlängerung keine einzige Torchance mehr hatte. England hatte mehr Kraft und schoss auch noch ein viertes Tor, in der 120. und letzten Minute, wiederum durch Geoffrey Hurst. Da war das Spiel schon fast vorbei und die ersten Fans rannten auf den Platz, was natürlich irregulär war, aber was änderte das schon. England ist ein würdiger Weltmeister, Uwe Seeler und Co. haben Deutschland hervorragend vertreten, und was bleibt, ist die Hoffnung auf die Zukunft. Die nächste Weltmeisterschaft findet 1970 in Mexiko statt, und nichts wäre schöner, als wenn Deutschland dort auf die Engländer treffen würde, am besten in einem K.-o.-Spiel.

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