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Brandenburg: Stadt auf dem Pulverfass

Von Claus-Dieter Steyer Oranienburg. Überall lauert die tödliche Gefahr – unter Wohnhäusern, in Vorgärten, an und in der Havel.

Von Claus-Dieter Steyer

Oranienburg. Überall lauert die tödliche Gefahr – unter Wohnhäusern, in Vorgärten, an und in der Havel. Oranienburg, 20 Kilometer nördlich Berlins gelegen, leidet unter einer heimtückischen Hinterlassenschaft des Krieges. Scharfe Bomben liegen seit mehr als 52 Jahren im ganzen Stadtgebiet und in der Umgebung. Der Brandenburger Munitionsbergungsdienst schätzt deren Zahl auf 200 bis 300. Seit der Wende wurden bereits etwa 100 Bomben unschädlich gemacht. Die Stadt sitzt auf einem Pulverfass.

Am 15. März 1945 fielen auf Oranienburg rund 20 000 Bomben. Die Stadt wurde zu 60 Prozent zerstört, die Angriffe galten vor allem der Rüstungsfirma Auer-Werke sowie dem Güterbahnhof, dem Flugplatz der Heinkel-Werke und einer SS-Zentrale im Ortsteil Friedrichsthal. Wie einige Historiker später herausfanden, wollten die Amerikaner unbedingt die Auer-Werke vor dem Eintreffen der Roten Armee zerstören. Wissenschaftler arbeiteten hier mit komplizierten technischen Anlagen am deutschen Atombombenprojekt. Außerdem lagerten auf dem Gelände in der Nähe der Havel große Mengen an Uran. Die meisten Fachleute überlebten die Bombardierung. Sie arbeiteten später zwangsweise in sowjetischen Atomforschungszentren. Eine spezielle Bombenart sollte das offensichtlich verhindern. Denn die über Oranienburg abgeworfenen Sprengkörper trugen zu einem Drittel chemische Langzeitzünder. Eine Zelluloidscheibe bewirkte, dass beim Aufprall auf den Boden der Schlagbolzen nicht sofort auf das Zündhütchen knallte und den Zündmechanismus auslöste. Erst 12, 24 oder 36 Stunden später, wenn die Aufräumarbeiten schon liefen, hätten sich die kleinen Scheiben durch auftropfende Säure auflösen sollen. Doch die Technik funktionierte in vielen Fällen nicht.

Die todbringende Fracht liegt seitdem im Boden und kann jeden Augenblick losgehen. Denn im Laufe der Jahre zersetzt sich das Zelluloid. Mehrere Bomben detonierten schon von selbst, bislang ohne große Schäden. „Aber wir stehen in einem Wettlauf mit der Zeit“, sagt die für Bombenalarme zuständige Ordnungsamtsleiterin Sylvia Holm. „Experten geben die Lebensdauer der Bomben nur mit höchstens 50 Jahren an.“ In einem Jahr schaffe der Staatliche Munitionsbergungsdienst allerdings nur die Entschärfung von sechs Bomben. Dabei erhält Oranienburg schon ein Fünftel der im Landeshaushalt für die Munitionsbergung bereitgestellten 15 Millionen Euro. „Wir brauchen unbedingt eine Aufstockung der Gelder“, fordert Bürgermeister Hans-Joachim Laesicke. „Denn Oranienburg ist mit dieser Gefahr nicht mit anderen Städten vergleichbar.“ Sprengmeister Horst Reinhardt hält die Situation für dramatisch. „Jede in der Erde liegende Bombe mit diesem chemischen Zünder geht irgendwann los. Die braucht keine mechanische Erschütterung wie bei anderen Konstruktionen“, meint der 52-Jährige. „Manchmal bewahrt ein einziger Krümel den Zünder vor der Auslösung. Das grenzt an ein Wunder." Die Bomben werden nach einer Prioritätenliste gesucht. Vorrang besitzen Siedlungen und öffentliche Plätze. Vor Jahren in den USA gekaufte Luftbilder, die als Erfolgskontrolle nach den Bombenabwürfen gemacht worden waren, helfen nur bedingt. Nicht alle Einschläge wurden erfasst. Außerdem wanderten die Bomben in den Untergrund. Besonders betroffen ist das Gelände der 1945 bombardierten Auer-Werke, wo in den fünfziger und sechziger Jahre Wohnblöcke hochgezogen wurden. Am vergangenen Donnerstag entschärften die Sprengmeister hier zwei 500-Kilo-Bomben. Sie lagen unter dem Wäscheplatz und unter den Müll-Containern. Die Oranienburger reagieren auf jeden Bombenalarm inzwischen erstaunlich gelassen. „Vielleicht nehmen unsere Einwohner die Gefahr nicht mehr ernst“, mutmaßt Ordnungsamtsleiterin Holm. „Bisher ist ja auch alles gut gegangen. Bisher.“

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