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Harald Martenstein, Autor und Kolumnist.

© picture alliance / dpa

Martenstein über Leserkritik: Sogar Leser können irren

Wenn du in der Zeitung deine Meinung schreibst, melden sich meistens welche, die anderer Meinung sind. Es sei denn, deine Meinung ist so langweilig, dass sich niemand darüber aufregt.

Journalisten möchten geliebt werden, wie alle Menschen. Es soll um sie herum keine negativen Gefühle geben, nur Liebe. Aber das ist, wenn jemand Kommentare oder Glossen schreibt, fast unmöglich. Sobald ein Autor eine Meinung äußert oder einen Witz macht, stößt er oder sie natürlich einen Teil der Leserschaft vor den Kopf. Klar, du kannst Kommentare verfassen, aus denen nicht hervorgeht, was du selber denkst – du listest einfach die wichtigsten Argumente aller Seiten auf und lässt deinen Artikel mit dem Satz enden: „Welches Argument sich am Ende durchsetzt, bleibt abzuwarten.“

Manche werden einen solchen Autor für sachlich und objektiv halten. Andere für einen ängstlichen Langweiler. Welche Seite recht hat, bleibt abzuwarten. Sonderlich gemocht werden solche Autoren jedenfalls nicht, sie werden auch nicht gehasst, sie fallen nicht auf. Der Tagesspiegel hat eine besonders treue, eine besonders kritische und eine überdurchschnittlich gebildete Leserschaft. Es gibt viel Leserpost, natürlich überwiegt die Kritik. Das ist bei jeder Zeitung so. Wer sich ärgert, schreibt nun mal eher als jemand, der sich gefreut hat. Ärger macht produktiv.

Für Weizsäcker? Empörend!

Der auffälligste und beliebteste Autor, der für dieses Blatt je gearbeitet hat, war vermutlich Günter Matthes, langjähriger Chefredakteur und Verfasser einer täglich erscheinenden Glosse im Berlin-Teil. Er wurde, wie es sich für einen guten Autor gehört, nicht nur geliebt. Und er hat den, wie ältere Kollegen versichern, größten Empörungssturm der Leser verursacht, den der Tagesspiegel je erlebte.

Diese Zeitung war lange das einzige echte Gegengewicht zu der in West-Berlin besonders mächtigen Springerpresse. Der Tagesspiegel galt nicht, wie „Bild“ oder „Morgenpost“, als ein Anhängsel der Berliner CDU, der Tagesspiegel war liberal, unabhängig, im Zweifel vielleicht sogar SPD-nah. Matthes war die Verkörperung dieser Haltung. Und ausgerechnet er forderte in einem Kommentar zur Wahl der CDU auf.

Nein, nicht direkt der CDU, sondern ihres Kandidaten für das Amt des Regierenden Bürgermeisters, er hieß damals Richard von Weizsäcker und gewann tatsächlich die Wahl. Matthes war der Ansicht, dass die SPD sich in ihrer langen Regierungszeit verschlissen hatte und dass dieser Herr Weizsäcker, trotz CDU, ein guter Bürgermeister wäre – heute wirkt diese Meinung nicht sehr originell, damals war sie eine Provokation eines Teils der eigenen Leserschaft.

Ein Potpourri der schlimmsten Beschimpfungen

Es war tollkühn. Es gibt keine Statistik dazu, aber vermutlich hat diese Redaktion niemals wieder so viele wütende, verärgerte und beschimpfende Briefe bekommen wie damals. Abokündigungen waren sicher auch dabei. Es gibt, damals wie heute, hin und wieder Briefe an die Redaktion, in denen sinngemäß steht, dass der Autor eines bestimmten Artikels ein ahnungsloser Trottel sei.

Aber es steht überhaupt keine Begründung in dem Brief – weshalb genau ist der Autor denn ahnungslos und ein Trottel? Ja, warum denn? Da bist du als Adressat eines solchen Briefes dann wirklich völlig ahnungslos. Der Leserbriefschreiber dachte wahrscheinlich: Das versteht sich von selbst. Wenn man über Leserkritik schreibt, ist die Versuchung groß, einfach ein Potpourri der schlimmsten Beschimpfungen zu bringen, die man selber so im Laufe des Journalistenlebens über sich lesen musste. Da kommt einiges zusammen, und heute, wo das Internet den Postversand vereinfacht hat, ist es schlimmer geworden.

Aber neben der Beschimpfung, zu der auch die gebildete Leserschaft des Tagesspiegels gelegentlich in der Lage ist, gibt es ja auch den argumentierenden, den sachlich kritischen Brief, der einem zu denken gibt und einem Autor hin und wieder zu der Einsicht verhilft, dass er sich geirrt hat. Ja, wir alle sind fehlbar, ob wir nun Zeitungsschreiber sind, Zeitungsleser oder keins von beidem. Jede Zeitung, auch die beste der Welt, wird hin und wieder Fehler machen. Wenn man zu denen gehört, deren Fehlerquote deutlich unterhalb des Durchschnitts liegt, hat man schon viel erreicht.

Viel Freiheit für die Autoren

Deshalb wundert man sich als Redakteur manchmal über die Wut von Lesern, die einen Fehler entdeckt haben. Gewiss, der Fehler ist ärgerlich, der Hinweis auf ihn ist wichtig und eine Entschuldigung ist fällig. Aber warum die Aufregung? Ob die Leser, die sich so aufregen, in ihrem eigenen Berufsleben wirklich immer alles richtig gemacht haben? Der größte denkbare Irrtum ist bekanntlich der Gedanke, man irre sich nie. Der Fehler, der in der Zeitung steht, ist das eine. Das andere ist die ärgerliche Meinung. Zum Beispiel die Meinung von Günther Matthes, die Person Weizsäcker betreffend.

Als Leser könnte man probieren, diesem Ärger über andere Meinungen zu entgehen, indem man sich eine politisch festgelegte Zeitung sucht, eine erklärtermaßen linke, eine konservative, christliche oder muslimische, je nachdem. Aber das hilft ja auch nichts. Es gibt so viele verschiedene Arten, links, konservativ oder christlich zu sein, dass man sich da sofort auch wieder ärgert. Der Einzige, der hundertprozentig so denkt wie man selber, ist man leider selbst. Der Tagesspiegel ist nicht auf ein politisches Programm oder eine bestimmte Weltsicht festgelegt.

Er lässt seinen Autorinnen und Autoren, innerhalb gewisser Grenzen, viel Freiheit. Was in einem Artikel steht, ist nicht die Meinung „der Zeitung“, sondern die Meinung eines bestimmten Menschen, der für diese Zeitung arbeiten darf. Schon morgen kann ein anderer Artikel zum gleichen Thema erscheinen, von einem anderen Menschen, der anders argumentiert.

Man kann es nie allen recht machen

Wenn man für eine Zeitung schreibt, kann man es nie allen recht machen. Man wird immer irgendeinen Leser verärgern, mit jeder These, mit jedem Argument, es geht leider nicht anders.

Es gibt immer kritische Briefe. Man kann nur versuchen, es sich selbst recht zu machen. Das heißt, man sollte ehrlich sein. Man sollte das schreiben, was man wirklich denkt, ohne Angst vor was auch immer. Nur so entsteht, möglicherweise, ein guter Text. Als Autor darf man keine Angst haben, nicht einmal vor den Lesern, für die man arbeitet.

Aber man sollte sich auch immer der Tatsache bewusst sein, dass man sich irren kann. Deshalb verbietet sich Hochmut. Die Leser des Tagesspiegels sind ein besonderes Publikum, das merkt man schnell, wenn man schon in ein paar anderen Redaktionen gesessen hat. Sie lesen genau, sie lassen sich nichts vormachen. Sie sind kritisch. Und sie haben oft recht.

Dieser Text erscheint zum 70-jährigen Bestehen des Tagesspiegels. Lesen Sie weitere Beiträge zum Geburtstag auf unserer Themenseite.

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