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Regieren per Smartphone - auch dafür ist die Bundeskanzlerin bekannt.

© Stefan Sauer/dpa

Politik und Medien im digitalen Zeitalter: Die getriebene Republik

Die Globalisierung erzeugt Nachrichten im Sekundentakt – soziale Netzwerke machen daraus in Windeseile Meinungen und Trends. Die Politik steht unter Handlungsdruck und droht dabei Vertrauen zu verlieren.

Von Antje Sirleschtov

Das waren noch Zeiten, als sich Kanzler und Vizekanzler an Wahlsonntagen gemeinsam entspannt in einer Schulaula die Premiere von „Dornröschen“ ansahen. Was sollten Sie auch Wichtigeres tun, als ihren Kindern beim Schauspielern in Bonn zuzusehen, werden sich Willy Brandt und Walter Scheel am Tag der Bundestagswahl im November 1972 gefragt haben. Wahlergebnisse gab es ohnehin erst am Abend. Und wenn doch etwas Weltbewegendes geschehen sollte, dann würde man sie später informieren und es bliebe dann ja immer noch genügend Zeit zu reagieren.

Heute wäre das undenkbar. Die Welt tickt im globalisierten Takt. Was vor einer Stunde in China passiert ist, kann in diesem Augenblick schon Europa erschüttern. Facebook und Twitter treiben die Geschwindigkeit des Nachrichtenflusses ins Unermessliche. So erzeugt man Handlungsdruck und sorgt dafür, dass die Politik rastlos von Ereignis zu Ereignis getrieben wird. Morgens, schon vor Sonnenaufgang, werden die ersten Nachrichtenmeldungen der Kanzlerin zugeschickt. Und rund um die Uhr beobachten Twitterprofis im Auftrag der Regierenden, was sich auf den relevanten Accounts abspielt.

Geschwindigkeit als Geißel

Nichts verpassen, nur nicht doof dastehen, wenn Trends gesetzt werden oder die eigene Person im Fadenkreuz erscheint. Das ist die Herausforderung moderner Politik. Oder sollte man lieber sagen: Das ist ihre Geißel? Die Geschwindigkeit kann über die Karriere von Politikern in einer einzigen Sekunde entscheiden, kann Zeitungen wie Altpapier aussehen lassen, schon morgens, wenn ihre Leser am Kiosk vorbeigehen.

Und sie drängt den Demokratien ganz neue Fragen auf: Wie nachhaltig sind die politischen Prozesse? Wer eigentlich entscheidet noch legitimiert, wer ist der Souverän, wenn Twitterschwärme aus lokalen Ereignissen im Handumdrehen gesellschaftliche Bewegungen inszenieren und Parlamentarier wie Statisten aussehen, die einer neuen Realität hoffnungslos hinterherhinken?

Die politischen Abläufe waren früher klarer

Natürlich werden sich Akteure und Beobachter des politischen Geschäfts gegen den Befund wehren, dass ihre Arbeit in früheren Jahrzehnten ein Spaziergang war. Und sie hätten damit ja auch recht. So beschaulich, so übersichtlich die Kleinstadt Bonn und das Regieren in Zeiten klar umrissener Grenzen auch war. Die Anforderungen an Regierung und Parlament setzten die Handelnden in jeder Zeit unter enormen Druck. Wobei Hierarchien der Macht und Strukturen, in denen Gesetze entstanden, deutlich klarer waren – und auch von allen Beteiligten mehr akzeptiert wurden.

Der Gang der politischen Willensbildung vom Entwurf eines Gesetzes in den ministeriellen Büros über den Kabinettsbeschluss, die Befassung von Ausschüssen im Bundestag und Bundesrat bis hin zur Debatte und der Abstimmung im Plenum dauerten die Zeit, die sie eben brauchten. Und wer letztlich welchen Einfluss darauf hatte, das bestimmte die Geschäftsordnung in Regierung und Parlament.

Dem politischen Diskurs, dem Ringen um die Entwicklung des Landes, tat diese Langsamkeit keinen Abbruch. Die Menschen verfolgten ihn an Radio- und Fernsehempfängern, politische Journalisten sammelten ihre Informationen in Gesprächskreisen mit wichtigen Politikern, den einschlägigen rheinischen Restaurationen und nicht zuletzt in den regelmäßig stattfindenden Bundespressekonferenzen.

Vielleicht kann man sogar an dieser institutionalisierten Schnittstelle von Politik und Öffentlichkeit und ihrer Entwicklung den Zeitenlauf ermessen: Gegründet zur Gewährleistung politischer Transparenz nach dem Zweiten Weltkrieg eröffnete die Bundespressekonferenz zunächst nur wenigen Hauptstadtjournalisten den Zugang zu den Mächtigen Deutschlands.

Und zwar exklusiv, weil die Pressekonferenzen nie öffentlich übertragen wurden. Dort sammelten die zugelassenen Journalisten ihre Informationen, die die Bürger am Abend in den Nachrichtensendungen und am nächsten Tag in den Zeitungen präsentiert bekamen. Jahrzehntelang war das so, bis weit in die modernen Zeiten der sogenannten Berliner Republik hinein.

Was wirklich wichtig ist, läuft schon über Twitter und Facebook

Heute ist diese traditionsreiche Institution einem beispiellosen Legitimationsdruck ausgeliefert, bis hin zu der Frage ihrer Selbstaufgabe. Der Grund dafür ist sehr einfach: Mit der enorm angewachsenen Zahl der Medien, dem Wettbewerbsdruck, dem sie ausgeliefert sind, und der damit einhergehenden Pflicht zu permanenter Exklusivität und Sprengkraft einer Nachricht gibt es immer weniger Bedarf, sich montags, mittwochs und freitags mit dem Regierungssprecher über die politischen Ereignisse und das Regierungsgeschehen auszutauschen.

Was wirklich wichtig ist, haben Facebook und Twitter im Zweifelsfall ohnehin schon verbreitet und die Spitzen der deutschen Politik zu Reaktionen veranlasst. Das „Diktat der Geschwindigkeit in der Mediendemokratie“, stöhnte einst der EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD), zwinge ihm und allen anderen Politikern permanent und „unbarmherzig“ Kommentierungen ab. Zeit zum Denken, Gelegenheit zur Debatte im vertraulichen Raum bleibe dabei nicht mehr.

Als Martin Schulz diesen Druck beklagte und zugleich versprach, er wolle ihm nicht nachgeben, war er noch jung im Amt des Parlamentspräsidenten. Inzwischen gab es die Griechenlandkrise, in der Schulz eine wichtige Rolle spielte, fast täglich äußerte er sich medial und müsste in der Rückschau vermutlich seine Kapitulation eingestehen. Wie ihm geht es allen: Entweder man macht mit. Oder man ist draußen.

Ausdruck von Demokratiemüdigkeit

Beispielhaft für die Auswirkungen der Turbopolitik auf die Demokratie und die Fragen, die sich ihr aufdrängen, sind zweifellos die Finanzmarkt- und die aus ihr hervorgegangene Eurokrise. Als der globalisierte Turbokapitalismus angloamerikanischer Prägung 2008 implodierte, stellte das die gewählten Politiker in Berlin vor ein schier unlösbares Dilemma: Entweder konnten sie die Auswirkungen und politischen Konsequenzen daraus in einem ordentlichen demokratischen Verfahren diskutieren und bewerten – also verhandeln und Kompromisse finden – oder ohne viel Federlesen durchregieren.

Sie taten Letzteres, weil sie die Gefahr eines Zusammenbruchs des deutschen Wirtschaftssystems, das untrennbar im Netz des globalen Systems verwoben ist, fürchteten. In nur drei Tagen wurde das sogenannte Finanzmarktstabilisierungsgesetz durch Bundestag und Bundesrat gepeitscht, ein Verfahren, das sonst monatelang dauert. Und auch die folgenden Gesetze zur Stabilisierung der Eurozone folgten dann diesem Diktat der Geschwindigkeit.

Zahllose Parlamentarier gestehen seither, dass sie die Frage ihrer Wähler, ob sie diesen Gesetzen mit gutem Gewissen zugestimmt haben und deren Auswirkungen für das Land ermessen können, nicht mit Ja beantworten und sogar nachvollziehen könnten, dass sich die Menschen von der Politik abwenden, weil sie nicht mehr daran glauben, dass man mit einer Wahlentscheidung wirklich am demokratischen Willensbildungsprozess teilhaben kann. Ein Ausdruck von Demokratiemüdigkeit, der allenthalben beklagt wird. Für den aber keiner einen goldenen Ausweg kennt.

Die Antwort ist ernüchternd

Ist die Politik also Opfer von Globalisierung und Technisierung, wird in Zukunft per Twitterentscheid über gesellschaftliche Entwicklung abgestimmt? Wer verfolgt hat, wie sich das Bild der Deutschen in der Flüchtlingskrise in den sozialen Netzwerken, im Internet allgemein, entwickelt hat, der könnte annehmen, eine übergroße Mehrheit bejubelt die unbegrenzte Aufnahme von Flüchtlingen aus aller Welt, ein kleiner Teil hetzt nationalistische Parolen.

Doch entspricht das der Realität, bildet diese Schwarmmehrheit das wahre Deutschland? Die Antwort ist ernüchternd: Die Politik hat keine Zeit, darüber nachzudenken, sie muss Eilgesetze erlassen. Sie muss handeln, um sich nicht dem Vorwurf der Untätigkeit auszusetzen, der wiederum in Windeseile im Netz anschwellen und neuen Handlungsdruck erzeugen könnte.

Dieser Text erscheint zum 70-jährigen Bestehen des Tagesspiegels. Lesen Sie weitere Beiträge zum Geburtstag auf unserer Themenseite.

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