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Der Bundespräsident hat das Recht, Gesetze zu unterschreiben - und sie zu stoppen.

© Wolfgang Kumm/dpa

Joachim Gauck: Schweigen in Schwarz-Rot-Gold

Bundespräsident Joachim Gauck hat noch kein Gesetz gestoppt, das er unterschreiben sollte. Manche hat er schon lautstark bezweifelt. Doch niemand soll wissen, warum.

Der Mann könnte ein Visionär sein. Als er im Februar 2013 seine Unterschrift unter das gesellschaftspolitisch umstrittenste Gesetz der damaligen Legislaturperiode setzen sollte, zum Betreuungsgeld, da zögerte er kundig und erklärte, er habe "verfassungsrechtliche Bedenken". Jedoch seien diese nicht "so durchgreifend", dass sie einer "Ausfertigung" im Wege gestanden hätten, wie der Akt der Präsidenten-Unterschrift unter neue Gesetze förmlich heißt. Das Staatsoberhaupt hat das Recht, Gesetze zu stoppen, die nach seiner Auffassung verfassungswidrig sind.

Vor ein paar Wochen verhandelte das Bundesverfassungsgericht den Fall. Die Richter haben ebenfalls Bedenken, die allerdings womöglich durchgreifend sind. Nicht weil das Betreuungsgeld, wie Kritiker monieren, Mütter gleichstellungswidrig an die Küche kettet. Sondern weil dem Bund die Kompetenz fehlt, die Sache zu regeln. Ein Aspekt, der im Gesetzgebungsverfahren kaum eine Rolle spielte. Wusste Joachim Gauck es besser?

Frühere Präsidenten haben sich erklärt

Falls ja, sagt er es nicht. Der Präsident äußert sich nicht zu seinen Erwägungen. Es handele sich um "vertrauliche, interne Vorgänge, über die wir nicht berichten", teilt sein Amt mit. Das ist neu. Als der damalige Präsident Johannes Rau 2002 am Zuwanderungsgesetz zweifelte, weil sich die SPD die Zustimmung im Bundesrat ertrickst hatte, veröffentlichte er eine seitenlange Erklärung. Horst Köhler legte 2005 ebenfalls in Einzelheiten dar, weshalb nach seiner Ansicht das – später in Karlsruhe gekippte – Gesetz zum Abschuss entführter Passagierflugzeuge ein Problem mit der Menschenwürde hat.

Gauck dagegen beschwieg seine prominentesten Zweifelsfälle, das Betreuungsgeld und das Gesetz zur Diätenerhöhung für Bundestagsabgeordnete. Beide Male gab es nur per Pressemitteilung den ebenso bedeutungsvollen wie apodiktischen Hinweis auf offenbar schwerwiegende "verfassungsrechtliche Bedenken", die dann aber doch nicht "so durchgreifend" gewesen seien, dass er die Gesetze hätte stoppen müssen.

Neu ist daran auch, dass Gauck Näheres zu seinen Bedenken anderen, unmittelbar an der Gesetzgebung beteiligten Verfassungsorganen ebenfalls vorenthält, anders etwa als Karl Carstens oder Roman Herzog. Dabei hat sich bei präsidentiellen Zweifeln "die Staatspraxis dahingehend entwickelt, dass der Bundespräsident in einem Brief an den Bundeskanzler und an die Präsidenten von Bundestag und Bundesrat seine verfassungsrechtlichen Bedenken darlegt", hieß es bis vor Kurzem noch auf der Webseite des Präsidialamts. Auch in der Staatsrechtslehre wird davon ausgegangen, dass der Bundespräsident, dem Grundsatz der Organtreue Folge leistend, seine Zweifel darlegen soll, um Überraschungsentscheidungen zu vermeiden.

Das Amt änderte den Web-Auftritt: Es gibt keine Staatspraxis

Nunmehr teilt das Präsidialamt mit: Eine solche "Staatspraxis" bestehe überhaupt nicht. Ende vergangener Woche ließ Gauck den Text in seinem Web-Auftritt ändern. Jetzt heißt es nur noch, Präsidenten hätten "in einzelnen Fällen" Bedenken dargelegt. Von "Staatspraxis" ist keine Rede mehr. Tatsächlich hat Gauck darauf verzichtet, anderen Verfassungsorganen seine Kritik zu erläutern. Das Präsidialamt gibt zwar auch dazu keine Auskunft, jedoch bestätigten Kanzleramt sowie Bundestag und Bundesrat, von Gauck nichts in Sachen Betreuungsgeld oder Diäten gehört zu haben.

Über den Grund für Gaucks zurückhaltende Informationspolitik lässt sich nur spekulieren. Am wahrscheinlichsten ist wohl, dass seine Zweifel an den Gesetzen doch nicht so schwerwiegend waren, wie sie in den offiziellen Mitteilungen erschienen. Dann aber fragt sich, weshalb er sie überhaupt an die Öffentlichkeit brachte. Womöglich, um Sympathiepunkte in den großen Teilen des Volkes zu sammeln, die ebenso etwas gegen die vielfach als Skandal empfundene Herdprämie haben wie gegen allzu gut bezahlte Berufspolitiker im Parlament?

Das Maut-Gesetz hat er am Montag nun unterschrieben

Mag sein, doch politische Vorbehalte dürfen den Bundespräsidenten bei seiner Verfassungsprüfung zur Unterschrift vorliegender Gesetze nicht leiten. Er muss juristische Argumente finden, um die Ausfertigung zu verweigern. In der Geschichte der Bundesrepublik kam dies nur acht Mal vor. Rund zwanzig Mal wurden zumindest Zweifel laut. Seit Horst Köhler 2006 zwei Gesetze stoppte, hat kein Präsident mehr von seiner Befugnis Gebrauch gemacht. Gaucks direkter Amtsvorgänger Christan Wulff hatte die Verlängerung der Atomlaufzeiten 2010 zwar erst "nach intensiver und sorgfältiger Prüfung" unterzeichnet, aber keine Bedenken geltend gemacht.

Amtsinhaber Gauck hat sich nun offenbar für den Weg des öffentlichen Bedenkentragens entschieden – ohne jedoch bisher wirklich erwogen zu haben, eines der bezweifelten Gesetze durchfallen zu lassen. Seit 8. Mai lag ihm nun das umstrittene Mautgesetz vor. Am Montagnachmittag hat Gauck das Gesetz unterschrieben. Das Präsidialamt sagte nichts dazu, ob es bei der Verfassungskontrolle auch EU-Recht einbezog.

Das Präsidialamt meint grundsätzlich, zu Auskünften gegenüber der Öffentlichkeit nicht verpflichtet zu sein. Ob dies auch für amtliche Gesetzeszweifel gilt, wird auf Antrag des Tagesspiegels in einem verwaltungsgerichtlichen Verfahren überprüft.

Dieser Text findet sich in der "Agenda" vom 9. Juni 2015 - einer neuen Publikation des Tagesspiegels, die jeden Dienstag erscheint. Die aktuelle Ausgabe können Sie im E-Paper des Tagesspiegels lesen.

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