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Flüchtlinge in der Schule - das verlangt auch mehr Lehrer.

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Öffentlicher Dienst und Flüchtlinge: Wir stellen ein

Die Flüchtlingskrise wird zur Chance für den öffentlichen Dienst. Bund, Länder und Kommunen brauchen neue Mitarbeiter. Doch wie viele eigentlich?

Krise ist, wenn eine Situation schwierig wird, wenn Entwicklungen sich zuspitzen, wenn der normale Geschäftsgang nicht mehr ausreicht. Jede Krise ist aber auch eine Chance. Die Herausforderung muss bewältigt werden. Dafür braucht man Geld – und Personal. Krisen sind daher die Stunde der Verbands- und Interessenvertreter. Sie bekommen plötzlich mehr Gehör. Klagen und Forderungen lassen sich nicht so leicht herunterreden und abwehren wie in normalen Zeiten. Und wenn die Politik dann noch nervös wird, weil es beim Krisenmanagement hakt oder das Problem immer größer wird, dann fördert dies das Eingehen auf Verbandswünsche. Und wenn dann noch, wie in diesem Frühjahr im öffentlichen Dienst des Bundes und der Länder, eine Tarifrunde ansteht, dann haben die Verbände Oberwasser. Die Flüchtlingskrise wird genutzt werden. Zumal der Staat gut im Plus liegt.

Verdi-Chef Frank Bsirske hat schon den großen Bogen geschlagen und nicht nur höhere Einkommen, sondern auch mehr Stellen gefordert. Bei Bund, Ländern, Kommunen. „Kitas, Sozialdienst, Schulen, Bundesagentur, Jobcenter und viele andere Bereiche brauchen mehr Personal“, sagt er und begründet das mit den Flüchtlingen. So ähnlich klingen die Stellungnahmen von Beamtenbund, Polizeigewerkschaft, GEW, Philologenverband – bis hinunter zum BVÖGD, der die Amtsärzte vertritt und nach Jahren des Personalabbaus eine Chance sieht, die Zahl der Mediziner im öffentlichen Gesundheitsdienst wieder zu erhöhen, dank der Flüchtlinge. Auch einige der Bundesministerien haben die Krise als Chance begriffen und am Ende der Etatberatungen im November noch schnell einige Stellen mehr durchgedrückt. Mit dem Argument „Flüchtlinge“ geht derzeit eben etwas.

Überstunden reichen nicht

Abwegig ist das Ansinnen von Bsirske & Co. natürlich nicht. Es ist unstrittig, dass der Zustrom von mehr als einer Million Menschen mehr Personal im öffentlichen Dienst verlangt. Denn der erhöhte Bedarf lässt sich nicht nur mit Überstunden und Extraschichten decken. Rainer Wendt, der Vorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft, klagt seit Wochen darüber, dass die Mehrarbeit seiner Kollegen überhandgenommen habe, dass bei manchen Polizisten mehr als tausend Überstunden aufgelaufen seien.

Das Problem ist nur: Wie viele Mitarbeiter, wie viele Stellen genau müssen es denn sein? Nachfragen bei Verdi und Beamtenbund führen nicht zu konkreten Zahlen. Auch Städtetag und Landkreistag forschen noch. Die Sache ist aber wohl recht einfach: Niemand kann derzeit seriös beziffern, um welche Dimensionen es konkret geht. Schließlich hängt der tatsächliche Bedarf von der weiteren Entwicklung ab. Die aber kennt man nicht. Kommen 2016 noch mehr Flüchtlinge? Werden es weniger? Wie viele bleiben auf Dauer, wie viele kehren zurück in ihre Heimat? Man ist auf Prognosen angewiesen. Und die liegen oft im Ungefähren. Darauf baut niemand gerne Personalentwicklungspläne.

Einige tausend Stellen beim Bund

Einigermaßen genaue Zahlen gibt es beim Bund. Die Bundesagentur für Arbeit und die Jobcenter sollen 3600 neue Mitarbeiter bekommen, um die wachsende Zahl der Grundsicherungsanträge zu bearbeiten und möglichst viele Flüchtlinge in Jobs zu vermitteln oder zumindest in Weiterbildungsmaßnahmen. Beim Bundesamt für Migration wurden bis Ende vergangenen Jahres 1175 neue Entscheider eingestellt. Die Bundespolizei soll um 3000 neue Stellen aufgestockt werden. Bei den Landespolizeien sind ebenfalls tausende neue Stellen eingeplant.

Um sich eine Vorstellung vom tatsächlichen zusätzlichen Personalbedarf der Kommunen zu machen, muss man mangels einer Gesamtschau unten anfangen. Zum Beispiel in Nürnberg, einer der Großstädte, die besonders viele Flüchtlinge aufzunehmen haben. In der fränkischen Metropole sind es derzeit etwa 7000, inklusive 500 unbegleitete Minderjährige, die besonders viel Personalaufwand erfordern. Wie das Presseamt der Stadt mitteilt, sind 2015 und für 2016 bisher 124 Stellen neu geschaffen worden – vor allem im Jugendamt, im Sozialamt, im Einwohneramt, im Gesundheitsamt. Bei gut 9800 Vollzeitstellen in der gesamten Stadtverwaltung liegt der „flüchtlingsbedingte“ Stellenzuwachs bei 1,2 Prozent. Darmstadt, eine typische westdeutsche Mittelstadt, hat gerade etwa 50 neue Stellen wegen der Flüchtlinge geschaffen, zum Teil befristet. Die meisten davon in den Ämtern für Soziales und Jugend, daneben einige bei der Ausländerbehörde oder beim Flüchtlingsbeauftragten. Das ist nach Angaben der Stadtverwaltung ein Personalplus von 2,4 Prozent. Nimmt man die Zahlen der beiden Städte, dürfte der zusätzliche Personalbedarf bei den Kommunen irgendwo zwischen 1,5 und 2 Prozent liegen. Grob gesprochen (und mit aller Vorsicht) wären das, bei mehr als einer Million Stellen im öffentlichen Dienst der Kommunen, wohl 15 000 bis 25 000 Neueinstellungen wegen der Flüchtlinge. Helmut Dedy vom Städtetag gibt allerdings zu bedenken, dass nicht alle Städte die Möglichkeit hätten, neues Personal einzustellen. Städte mit großer Finanznot und strengen Haushaltsauflagen könnten häufig nur vorhandene Mitarbeiter aus anderen Abteilungen abziehen, „worunter die bisher wahrgenommen Aufgaben natürlich nicht leiden dürfen“.

Wie viele Kinder?

Die Schätzungen, wie viele Flüchtlingskinder zu erwarten sind, reichen derzeit bis zu 350 000. Dafür braucht es Erzieher und Lehrer. Die Kultusministerkonferenz (KMK) hat kürzlich eine Peilung abgegeben: Etwa 25 000 Lehrer seien wegen der Flüchtlinge zusätzlich an den Schulen nötig. Die Vorsitzende der Bildungsgewerkschaft GEW, Marlis Tepe, hält zudem etwa 14 000 neue Mitarbeiter für den Vorschulbereich für nötig, Verdi-Vorstandsmitglied Wolfgang Pieper beziffert den Bedarf sogar auf bis zu 30 000 Erzieher.

Nordrhein-Westfalen hat gut ein Fünftel der deutschen Bevölkerung und ist in aller Regel repräsentativ für die Gesamtrepublik. In NRW hat die rot-grüne Regierung für 2015 und 2016 insgesamt 5766 zusätzliche Lehrerstellen geschaffen, was dem Landesanteil an der geschätzten KMK-Zahl entspräche. Davon sind 1200 Stellen für die Sprachförderung vorgesehen, sind daher weitgehend für den Unterricht von Flüchtlingskindern eingeplant. Etwa 4100 Stellen dienen der „Abdeckung des erhöhten Grundbedarfs“ – es sind also Lehrer für die Vorbereitungsklassen und die Regelklassen, in welche die jungen Syrer oder Iraker eingeschult werden, sobald sie dem Unterricht folgen können. Diese neuen Stellen, betont das Düsseldorfer Kultusministerium, kämen allen Schülern zugute. Was zur Frage führt: Sind wirklich alle dieser Lehrerstellen „flüchtlingsbedingt“? Der Chef des Philologenverbands, Peter Meidinger, hat unlängst den Verdacht geäußert, die Länder vermischten ohnehin geplante Stellen mit zusätzlichen Flüchtlingslehrern. Das kurzfristige Problem ist jedoch vor allem, die Stellen auch zeitnah zu besetzen. In NRW waren laut Ministerin Sylvia Löhrmann zum Jahresende gut 90 Prozent der neuen Lehrerstellen besetzt. Der hessische Kultusminister Alexander Lorz sagt: „Ich bin zuversichtlich, dass es gelingen wird, den Lehrkräftebedarf in den kommenden Monaten vollständig abzudecken.“

Das Puzzle ist nicht vollständig. Aber addiert man die Einschätzungen und Hochrechnungen, dann landet man leicht bei einem Personalmehrbedarf im höheren fünfstelligen Bereich, der durch die Flüchtlinge bedingt ist.

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