zum Hauptinhalt
Fünf Minuten dauert die Stenografenschicht in einer Bundestagsdebatte.

© Thalia Engel/dpa

Parlamentsstenografen: Die heimlichen Helfer

Stenografen gibt es, seit es Parlamente gibt. Und trotz Schreibautomaten und Computern wird es sie auch in Zukunft geben – denn ihre Aufgabe ist ja mehr, als einfach nur schnell zu schreiben.

Sie sitzen mittendrin – im Plenum des Bundestages, im Rund des Bundesrates. Ständig sind sie im Bild. Sie sind stille Teilnehmer des politischen Geschehens. Die stillsten sogar. Sie schreiben einfach nur mit. Doch sie gehören zum parlamentarischen Verfahren wie die Redner, deren Sätze sie protokollieren. Es gibt sie, seit es Parlamente gibt. Aber wird es sie immer geben? Sind Parlamentsstenografen nicht ein Anachronismus? Braucht man in Zeiten, in denen es Schreibautomaten gibt und in denen Computer Sprache erkennen können, eigentlich noch so etwas Altmodisches wie das Notieren der Reden von Hand, in Kurzschrift?

Wolfgang Behm kennt das Argument, und er nimmt es gelassen. Er ist seit 1972 dabei, hat tausende Reden gehört und in Kurzschrift festgehalten, heute leitet er das Referat mit 30 stenografischen Mitarbeitern. Er ist sicher, dass seine jüngeren Kollegen noch lange in der Stenografenbox direkt vor dem Rednerpult sitzen werden. Das Ende der Parlamentsstenografie? „Darüber wird geredet, seit es Tonaufzeichnungen gibt“, sagt Behm. Also schon seit Jahrzehnten. Warum sie überlebt? Behms bündige Antwort: „Eine Rede ist keine Schreibe.“ Und für die Schreibe sind die Stenografen zuständig, die weitaus mehr tun, als nur den O-Ton zu dokumentieren. Da würde ja das Tonband reichen oder der Videomitschnitt, den man auch zügig auf die Website stellen kann. Aber Behm und seine Kollegen (im Bundesrat leitet Norbert Luck das Referat) machen weitaus mehr: Sie sind die Schreiber, die jede Rede braucht, um am Ende auch lesbar zu sein. Sie sind es, die dafür sorgen, dass ein Sitzungsprotokoll mehr ist als nur die reine Abschrift einer Debatte.

Denn die Protokolle sollen auch etwas wiedergeben von der Atmosphäre während einer Sitzung. Zwischenrufe hören, Beifallsbekundungen, Störversuche. „Lachen auf der Linken“, „Beifall bei der CDU/CSU und Abgeordneten der SPD“ – solche Zusatzinformationen kann keine Technik erfassen. Alles wird mitgeschrieben, jedenfalls soweit es wahrnehmbar ist. So lange es noch echte Redner gibt in Bundestag und Bundesrat, die nicht nur ein vorformuliertes Manuskript vorlesen, die abweichen von ihrem Text, die vielleicht nur einige Stichworte auf einen Zettel gekritzelt haben, an denen sie sich entlanghangeln, die auf Zwischenrufe eingehen, die abschweifen, Anekdoten einflechten, plötzliche Einfälle haben, die Sätze beginnen, die nicht enden, die Wörter auslassen, die sich verlieren und irgendwann wiederfinden in ihrem Redefluss – so lange haben die Stenografen eine Aufgabe. Denn im Rohzustand lesen sich solche Reden oft nicht gut, selbst wenn sie beim Hören beeindruckend wirkten. Für den Stenografen seien jene Redner am schwierigsten, die aus dem hohlen Bauch sprächen, sagt Luck – also unvorbereitet, spontan.

Fünf Minuten nur dauert ein Stenografeneinsatz in einer Bundestagsdebatte, dann kommt schon die Ablösung. 16 Stenografen sind im Wechsel an der Reihe, der Ablaufplan ist minutiös. Im Bundesrat mit seiner ruhigeren Gangart (keine Zwischenrufe, kein Klatschen, kaum einmal ein echtes Hin und Her, viele abgelesene Reden) ist die Einsatzdauer etwas länger. Dann folgt die Hauptaufgabe der Stenografen, die in Wirklichkeit eher die Redakteure des Debattengeschehens sind: Das in Kurzschrift Notierte wird per Diktat in eine erste Langschriftform gebracht, und dabei ergänzen, glätten und korrigieren die Stenografen bereits, was fehlt, was krumm war, oder offenkundig falsch. Sätze, die im Off endeten, werden nun korrekt beendet, fehlerhafte Satzstellungen begradigt, ein falsches Datum berichtigt. „Wenn ein Abgeordneter den Zweiten Weltkrieg 1946 enden lässt, dann steht im Protokoll später natürlich 1945“, erläutert Behm. Man geht davon aus, dass ein Versehen vorlag. Eine Stunde etwa dauert dieser Grobschliff. „Der Anspruch auf Vollständigkeit ist immer da“, sagt Behm. Nur Sätze, die tatsächlich unterbrochen wurden (durch einen Zwischenruf etwa), oder die bewusst nicht vollendet wurden, werden nicht vervollständigt.

Danach haben die Abgeordneten zwei Stunden Zeit, einen Blick auf das Protokoll zu werfen – manche haken ab, andere bosseln noch herum. „Es geht aber allein um sprachliche Änderungen“, betont Behm. Und um Fehlerkorrektur. Inhaltliche Eingriffe, welche die Aussage verändern, sind nicht erlaubt, weder den Stenografen noch den Politikern. Denn „gesagt ist gesagt“ – so hat einmal ein Bundestagsvizepräsident einen der seltenen Streitfälle entschieden. Darauf achten auch die acht Revisoren, die sich in einem weiteren Schritt an die Texte machen. Sie haben ebenfalls eine „Schicht“ im Plenum, jeder eine halbe Stunde, in der mitgeschrieben wird. Später gehen sie die Rohprotokolle durch, vergleichen eventuell mit der eigenen Mitschrift, können auch schon die Tonaufzeichnung heranziehen, kontrollieren die Korrekturen der Abgeordneten. Zudem werden in diesem Schritt auch noch sachliche Aussagen nachgeprüft, falls Zweifel aufkommen – etwa bei Statistiken. Gelegentlich werden auch Zitate abgeglichen. Stammte, was ein Abgeordneter Kant zugeschrieben hat, wirklich von Kant? Oder war es Goethe? „Freund Google“, sagt Luck, sei hier mittlerweile eine große Hilfe.

Sind die Revisoren durch, gehen die beiden Schlussredakteure im Bundestag nochmals durch den gesamten Text. Je Debattenstunde sind das zehn, zwölf Seiten, die Donnerstagssitzung, die bisweilen bis tief in die Nacht geht, kann dann schon mal annähernd 200 Seiten Protokoll liefern. Nur wenige Stunden später liegt die offizielle, autorisierte Druckfassung vor, der Bundestag will es so, einen Tag nach der Sitzung spätestens.

Eine Plauderei mit den Veteranen Behm und Luck – der eine ist seit 1972 Parlamentsstenograf, der andere seit 1975 – wird schnell zur Zeitreise. Beide kommen bei der Frage nach beeindruckenden Auftritten schnell auf Herbert Wehner. Und Franz Josef Strauß. Den Grantler von der SPD und den Wetterer von der CSU haben Luck und Behm als junge Stenografen „geschrieben“, wie man in der kleinen Branche sagt. Strauß sei eine besondere Herausforderung gewesen, sagt Luck. Redner mit Dialektfärbung sind immer etwas schwieriger, bei Strauß kamen noch die Lateinzitate hinzu. Wehner war aus Stenografensicht ein einfacher Fall: Der langjährige SPD- Fraktionschef und Minister habe auch noch den Faden behalten, wenn die Sätze ausuferten, und er habe sie fast immer korrekt beendet, erzählt Luck, der im Bundestag anfing. Im Gegensatz zu Strauß mochte Wehner Fremdwörter nicht. Auch einige der einstigen Ministerpräsidenten haben den obersten Bundesratsstenografen beeindruckt: „Bei Kurt Biedenkopf stimmte jeder Punkt und jedes Komma. Auch Henning Voscherau war ein guter Redner.“ Was ist ein guter Redner? „Ein schneller Denker“, sagt Luck.

Und was macht einen zum guten Parlamentsstenografen? Sportlicher Ehrgeiz möglicherweise. Behm und Luck haben einen ganz ähnlichen beruflichen Hintergrund. Sie haben schon als Jugendliche mit dem flinken Schreiben in der deutschen Einheitskurzschrift begonnen, zu einer Zeit, als das noch weit gängiger war als heute. Als es noch überall Schreibvereine gab, in denen man nicht nur das Handwerk lernte (Behm nennt es auch „eine Kunst“), sondern auch für Bezirks- und Landes- und Deutsche Meisterschaften trainierte. Dieses Vereinsmilieu ist heute ausgedünnt. „Außerhalb des Kreises von Spezialisten ist die Stenografie auf dem absteigenden Ast. Sie wird kaum noch unterrichtet, sie wird immer seltener als Berufsvoraussetzung verlangt, und es gibt auch kaum noch Schreibvereine“, weiß Luck zu berichten. Früher hätten auch Staatsanwälte Steno beherrschen müssen. Es gab Zeiten, da galt das auch für Journalisten. Tempi passati. Dennoch gibt es weiterhin Nachwuchs, auch wenn, wie Behm sich erinnert, in den 90er Jahren so etwas wie eine kleine Krise herrschte.

400 Silben pro Minute oder mehr, das ist durchaus die Erwartung. Aber schnelles Schreiben allein genügt nicht. Gefordert wird auch ein Fachstudium, Behm ist Ökonom, Luck hat Jura belegt. Gutes Allgemeinwissen ist von Vorteil. Humor schadet nicht. Das Kürzel für „ich“ etwa sieht aus wie eine „1“ („eins“). Steht ein Pünktchen darunter, dann hat der oder die Abgeordnete an der Stelle gesagt: „Ich stehe auf dem Standpunkt ...“ Eine Floskel, ein Kürzel.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false