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Gähnende Leere: Immer weniger Menschen in Ostdeutschland engagieren sich in Parteien.

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Parteien in Ostdeutschland: "Wir kriegen keine jungen Leute mehr"

Besonders in Ostdeutschland verlieren die Volksparteien Mitglieder. In manchen Gegenden findet repräsentative Demokratie im Alltag nicht mehr statt.

Die Kurve weist nach unten. Wenn die Geschäftsführer ostdeutscher Parteien deren Mitglieder zählen, lässt sich das parteiübergreifend und langfristig auf zwei Worte bringen: Tendenz fallend. Nur bei den Grünen ist es anders, teilweise jedenfalls. Und bei der AfD, kurzfristig jedenfalls. Doch die Volksparteien CDU und SPD sowie die Liberalen in den ostdeutschen Bundesländern verlieren Mitglieder, und zwar rasanter als die Landesverbände im Westen der Republik.

Das hat Folgen. Wer sich in diesen Parteien engagiert, wer Politik machen will, übernimmt oft gleich mehrere Mandate, ist zum Beispiel Landtags- und Kreistagsabgeordneter; ein Parteiamt kommt dazu. Der demokratische Boden, auf dem sich die Politik bewegt, wird dünner, brüchiger. Je weniger Mitglieder in einer Partei zum Beispiel Wahlkampf machen, desto schwächer erscheint – und wirkt – die repräsentative Demokratie.

Absolute Zahlen sagen wenig. Gut 450.000 Mitglieder hatten CDU und SPD bundesweit laut einer Darstellung der Bundeszentrale für politische Bildung von 2015; rund 55.000 hatte die FDP, gut 60.000 hatten die Grünen. Aussagekräftiger sind die Verluste – sie geben die Richtung an. Einer jährlich ergänzten Statistik des Politikwissenschaftlers Oskar Niedermayer zufolge verlor die CDU, Blockpartei in der DDR, seit 1990 genau 70,1 Prozent ihrer Mitglieder.

Bei der SPD, die in Ostdeutschland neu anfing, betrug die Verlustrate 10,9 Prozent. Die Liberalen, ebenfalls Blockpartei, büßten in 25 Jahren nach der Wende 93,6 Prozent der Mitglieder ein. Die Linken, Nachfolgepartei der SED und zunächst als Partei des demokratischen Sozialismus antretend, verloren 87,8 Prozent. Für beide Parteien galt das Gleiche wie für die CDU: Sie verloren Mitglieder in großer Zahl, die sich vom Zwang zum Parteibuch befreit sahen, als es die DDR nicht mehr gab.

Die Grünen gewinnen im Osten - aber nur im Berliner Umland

Langstrecken-Gewinner waren die Grünen. Sie legten laut Niedermayer seit 1990 um 249,3 Prozent zu. Der Politikwissenschaftler begründet das mit dem noch immer "jugendlichen" Image der Grünen; sie zögen Menschen an, die als "Aktivisten" Politik machen wollten.

Der Blick etwa auf die Brandenburger Grünen zeigt, dass deren Erfolgskurve eine Besonderheit hat: Sie gilt bloß für das Berliner Umland, für das eher städtisch geprägte Land. In der Uckermark oder dem Elbe-Elster-Kreis darben auch die Grünen. Neumitglieder gewinnt die Umweltpartei, gut tausend Mitglieder stark, vor allem in Potsdam, Potsdam-Mittelmark und Oberhavel – wo Brandenburg direkt an Berlin grenzt. Insgesamt verzeichne man ein Plus von 4,5 Prozent, sagt Sprecherin Annette Weiß. Darunter seien 42,5 Prozent Frauen. Ein Grund könne darin liegen, dass die Grünen das Gegenbild zur AfD und deren Frauenbild seien. Kurzum: Die Grünen wirken auch auf dem Land wie eine städtische Partei.

Bei den anderen zeigt sich in der Entwicklung vor allem der große West-Ost- Gegensatz. In der alten Bundesrepublik wurde die SPD in den 70ern zur Partei der Apo-Studenten auf dem Weg durch die Institutionen. Die Unionsparteien erlebten Jahre später eine ähnliche Entwicklung, eine "nachholende Parteibildung", so der Politikwissenschaftler Niedermayer. Die Milieus nährten die Parteien – die Gewerkschaften die SPD, die Kirchen die Union. Niedermayer nennt diese Phase "das goldene Zeitalter" der Parteiendemokratie. Vergleichbare Milieus hätten in der DDR bald nach ihrer Gründung nicht mehr existiert, sagt er.

Demokratie als Sache der wenigen

Heute gibt es in Ostdeutschland Gegenden, in denen repräsentative Demokratie im Alltag kaum noch oder gar nicht stattfindet. Umso schwerer wird es für die Parteien, an der politischen Willensbildung des Volkes mitzuwirken, wie es das Grundgesetz sagt. Demokratische Politik wird zur Sache der wenigen. Das Beispiel Brandenburg zeigt das.

Daniel Kurth fährt fast jeden Tag in der Woche von Eberswalde zum Potsdamer Landtag und abends wieder zurück, drei Stunden insgesamt. Der SPD-Abgeordnete, der für seine Fraktion im Innenausschuss und der Parlamentarischen Kontrollkommission sitzt, will zumindest morgens seine Kinder sehen.

Außerdem ist er Stadtverordneter in seiner Heimatstadt Eberswalde und gehört zwei Ausschüssen des Stadtrats an. Dann ist da noch seine politische Heimat, die SPD. Kurth ist stellvertretender Landesvorsitzender und Vorsitzender des SPD-Unterbezirks Barnim. Vor 21 Uhr sei er nicht zu Hause. "Samstag rechnet man mit mir zu Hause nicht."

Kein Ämterfreak, sondern ein sehr politischer Mensch – so wirkt dieser 43 Jahre alte Mann, der gern lacht, sich Zeit nimmt zum Reden und von sich sagt: "Ich bin ein Sprech-Freund." Soll heißen: Lieber direkt miteinander reden, als ständig twittern oder scheinbare Neuigkeiten auf Facebook posten. Ein Politikmacher war Daniel Kurth wohl schon als Jugendlicher. "Sich einmischen, nicht den Mund halten, das ist mir mitgegeben worden", sagt er. Bei den Grünen hat er angefangen, doch als die ihren Joschka Fischer wegen seiner Einstellung zum Kosovokrieg demontieren wollten, hatte er genug. Seit 1996 ist er in der Brandenburger SPD und vertritt die Interessen einer Region, die er "ehrliche Provinz" nennt.

Rein ehrenamtlich arbeitet Kurth für das Technische Hilfswerk. Und da, sagt er, gebe es den Spruch: "Wer führen will, muss Menschen mögen." Der Spruch sagt etwas über Kurths Politikverständnis. Ämter, die man übernimmt, sind kein Selbstzweck, sondern Möglichkeiten, etwas zu bewirken oder wenigstens zu bewegen. Rund 80 Mitglieder hat die SPD in Eberswalde-Finow. Partei, Stadtverordnetenversammlung, Kreistag, Landtag – da hätten die meisten zwei oder drei Ämter, sagt Kurth.

Bürgerinitiativen betreiben Landespolitik

Weil er weiß, dass die demokratische Politik mit ihren Gremien, ihren Ausschüssen, ihren Ebenen und ihren Entscheidungswegen eine komplizierte Sache ist, übernimmt er Aufgaben serienweise. In Brandenburg haben Bürgerinitiativen längst begriffen, wie sie Landespolitik betreiben können. Beispiel: die Reform der Landkreise. Für Kurth sind die Initiativen der Reformgegner "Konkurrenz" – aber nicht nur inhaltlich, sondern auch im Politikverständnis. Den Parteipolitiker stört die Schlichtheit des Dagegenseins, Partei ist für ihn die Zusammenführung, Verbindung und Ordnung von Interessen. "Ich habe noch keine ernsthafte Bürgerinitiative der alleinerziehenden Mütter mit zwei Kindern, die in Berlin arbeiten, gesehen – weil die nämlich keine Zeit haben", sagt er. Um die dürfen sich eher die Parteien kümmern.

Die Bürgerinitiativen leben von denen, die Zeit und Möglichkeiten haben, sich ganz auf ein Ziel zu konzentrieren. Parteien dagegen sind Orte der Kompromissfindung, der Ermittlung von Gemeinsamkeiten. Kurth hat den Eindruck, dass bei den Leuten das Verständnis für Kompromisspolitik, für die Ermittlung von Gemeinsamkeiten ständig abnimmt. Da sei "irgendwann der Transmissionsriemen gerissen".

"Wir kriegen keine jungen Leute mehr"

Bei der Konkurrenz sieht man es ähnlich. Roswitha Schier, CDU-Landtagsabgeordnete aus Lübbenau, findet es schwierig, Menschen für die Parteiarbeit zu gewinnen. Am stärksten wirke Betroffenheit, zum Beispiel die Schließung einer Schule. Sie ermutige die Leute dann: "Komm’ in den Kreistag und stell’ mal ’ne Frage!", sie will "die Leute animieren, den Mund aufzumachen – wir sind ’90 dafür auf die Straße gegangen!" Mit der Entwicklung der Mitgliedschaft ist sie nicht zufrieden. "Wir sind zu alt, wir sind zu männlich", sagt sie über ihre CDU. Und sie glaubt, dass die Demokratie insgesamt leidet, wenn nur wenige demokratische Politik machen: "Wir müssen weg von der Ämterhäufung."

Christian Ehrhardt, FDP-Generalsekretär, sitzt im Kreistag von Oberhavel und im Hohen-Neuendorfer Stadtrat. Dort ist er außerdem FDP-Ortsvorsitzender, in Oberhavel stellvertretender Kreisvorsitzender. Die Bereitschaft, ein Parteiamt zu übernehmen, werde mit der Entfernung von Potsdam immer schwächer: "Wir kriegen keine jungen Leute mehr."

Dieser Text erschien in der "Agenda" vom 22. November 2016 - einer Publikation des Tagesspiegels, die jeden Dienstag erscheint. Die aktuelle Ausgabe können Sie jeweils bereits am Montagabend im E-Paper des Tagesspiegels lesen.

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