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Was verstehen die Deutschland unter Wohlstand? Unter diesem Mikroskop wird Bundeskanzlerin Merkel wohl keine Amtworten finden.

© picture alliance/dpa

Regierungsprojekt: Merkel forscht: Was verstehen die Deutschen unter Wohlstand?

Die Kanzlerin will herausfinden, was gutes Leben für die Bürger bedeutet – und daraus einen neuen Kriterienkatalog erarbeiten lassen. Im nächsten Jahr soll sogar das ganze Kabinett auf die Suche gehen.

Von Robert Birnbaum

Manchmal ist es ganz schön, wenn man die graue Theorie anfassen kann, selbst für Frau Dr. rer. nat. Angela Merkel. „Habense so ’ne Maschine mal da?“, fragt die Kanzlerin. Suneet Singh Tuli hat. Die Maschine ist so unscheinbar wie revolutionär – ein kleiner schwarzer Tablet-Computer zum Schnäppchenpreis von 35 Dollar. Tuli hat ihn entwickelt. Der Ingenieur mit dem blauen Turban und dem imposanten Bart, die ihn als Angehörigen der indischen Sikh-Religion ausweisen, will damit armen Schülern und Studenten das Internet öffnen. In Indien läuft ein Pilotprogramm, eine Viertelmillion der kleinen Kästen ist schon verteilt.

Merkel dreht die Maschine hin und her. Wäre doch vielleicht auch was für unsere Schulen? Mitsamt dem Grundgedanken, den Tuli für das Projekt formuliert: „Good enough“, gut genug für den Zweck statt immer nur das Allerbeste oder gar nichts? Aus der Runde im Kanzleramt kommt aufmunterndes Nicken. Von den rund 150 Experten aus aller Welt, die Merkel vor Kurzem zwei Tage lang zum „2. Internationalen Deutschlandforum“ eingeladen hat, wissen wahrscheinlich die wenigsten, dass die Kanzlerin für Schulen hierzulande schlicht unzuständig ist. Aber was soll’s, wenigstens kriegt die Veranstaltung mal so etwas wie einen leicht verständlichen Nutzen.

Ansonsten ist der nämlich gar nicht einfach zu erklären. Seit zwei Wahlperioden führt Merkel einen „Dialog über Deutschlands Zukunft“, teils mit Experten, teils mit Bürgern. Inzwischen ist daraus ein Regierungsprojekt geworden. „Gut leben“ heißt es, nächstes Jahr soll das ganze Bundeskabinett ausschwärmen und den deutschen Bürgern aufs Maul schauen. Aber was am Ende dabei herauskommen soll, liegt für viele nach wie vor im Dunkeln.

Das Volk mit Psychotricks lenken

Zuständig für das Ganze ist Eva Christiansen. Merkels Medienfrau und Planungschefin koordiniert das Projekt zusammen mit einem kleinen Stab in der Regierungszentrale. Dass sie gleichzeitig ein zweites Vorhaben betreut, das gerade drei Psychologen und Soziologen einen Job bei der Regierung verschafft, sorgt gelegentlich für Missverständnisse. Projekt Nummer zwei heißt „Wirksam regieren“. Es hat Merkel und Christiansen den Verdacht eingetragen, sie wollten das Volk mit Psychotricks lenken.

Die Wahrheit ist schlichter. Es soll darum gehen, den Abstand zwischen „gut gemeint“ und „gut gemacht“ zu verkleinern. Merkel nennt das Beispiel einer britischen Regierungsinitiative, bei der 2011 ein kaum genutztes Wärmedämm-Programm für Dächer schlagartig zum Renner wurde, als man den Hausbesitzern Hilfe dabei anbot, ihre Dachgeschosse zu entrümpeln. Erst der scheinbar absurde Umweg führte zum Ziel; die Subvention für Dämmwolle allein reichte nicht.

„Gut leben“ erklärt sich nicht so einfach, weil es abstrakter daherkommt. Amtliches Endziel des Projekts ist ein neuer Kriterienkatalog für Wohlstand, der neben altehrwürdige, aber grobe Maßeinheiten wie das Bruttosozialprodukt feinere Indikatoren für private und soziale Lebensqualität stellen soll. Fortschritte, aber auch Rückschläge sollen dann später einmal in einem regelmäßigen Regierungsbericht dokumentiert und diskutiert werden, vergleichbar dem Jahreswirtschaftsbericht.

Symbolisches Trio als „Wiedervereinigungsdenkmal“

International gibt es solche Indikatoren längst, beispielsweise im Katalog der OECD für qualitatives Wachstum. Merkels Ansatz liegt aber die Vermutung zugrunde, dass Bürger mit Maßzahlen für ihr angebliches Wohlbefinden wenig anfangen können, wenn sie nicht das Gefühl haben, dass man sie wenigstens vorher fragt.

Dass das konkret schwierig ist, haben die Macher allerdings auch schon gemerkt. Als das Kanzleramt in der vergangenen Legislaturperiode dazu einlud, online zukunftsträchtige Vorschläge einzureichen, fluteten die Cannabis-Freunde mit allen technischen Tricks das Forum. Aktuell toben sich da militante Nichtraucher aus.

Immerhin hat es einer der ernsthaften Bürger-Vorschläge der ersten Dialogrunde 2012 zur Umsetzung geschafft. Am 25. Jahrestag des Mauerfalls pflanzte Merkel in Bonn-Beuel eine Eiche neben eine Buche und eine Kiefer. Das symbolische Trio hatte ein Bürger aus Wunsiedel als „Wiedervereinigungsdenkmal“ vorgeschlagen, in vielen Städten und Dörfern steht es inzwischen. Ansonsten speist Christiansens Team gelegentlich Ideen aus dem fast 600 Seiten langen Ergebnisbericht in die Regierungsarbeit ein, etwa in den letzten Koalitionsvertrag.

Merkel lernt jedenfalls viel dabei

Aber besonders systematisch passiert das nicht. Die Gefahr ist da, dass das Werk im Archiv alt wird. Dabei steht dort viel Bedenkenswertes nachzulesen – der Vorschlag zum Beispiel, auf dem Wahlzettel eine „Proteststimme“ abgeben zu dürfen, wenn einem der ganze politische Kram nicht passt. Oder die Idee, alle Grundschüler mit einem Tablet auszustatten. Die damalige Arbeitsgruppe hat das allerdings ausdrücklich „nicht weiterverfolgt“. Vielleicht, weil deutsche Grundschüler sowieso ein Smartphone haben und oft mehr von der digitalen Welt wissen als viele in Ehren ergraute Lehrer.

Andererseits liegt der größte Nutzen der ganzen Sache womöglich ohnehin im Prozess. Merkel lernt jedenfalls viel dabei, selbst in den komprimierten zweieinhalb Stunden, die sie zuletzt im Kreis der Experten verbracht hat. Das Oberthema hieß „Innovation“, und zwar ausdrücklich nicht nur technische.

So kommen neben dem Ingenieur Tuli afrikanische Datenpioniere und eine internetgestützte Bürgerinitiative in Rio de Janeiro zu Wort, aber auch einer wie Geoff Mulgan, Experte für soziale Innovation und Freund systematischen Vorgehens: neue Ideen für besseres Zusammenleben sammeln, rasch bewerten und sich dann ansehen, wie man sie verbreitet. „Die Praxis ist oft weiter als die Theorie“, sagt der energische Brite – es fehle nicht an Ideen, sondern an Hilfen für die entschlossene Umsetzung.

Etwas völlig Neues in Deutschland wagen?

Woran man denn eine gute soziale Idee erkenne, will Merkel wissen. „Learning by doing“, sagt Mulgan, einfach machen und prüfen, was passiert. Da biete moderne Datenverarbeitung ja genügend Möglichkeiten. Das Verfahren könne, klar, auch mal schiefgehen. Als in den USA Sträflinge in Schulen geschickt wurden, schreckten sie die Kids nicht wie gehofft ab, sondern inspirierten sie geradezu zur Nachahmung. Aber Pleiten seien kein Grund, es nicht zu versuchen.

Deutschland freilich, tadelt der gebürtige Österreicher Harald Hauser, sei nicht gut im Ausprobieren. Schrittweiser Fortschritt – okay. Aber „disruptive Innovation“, etwas völlig Neues wagen? Hauser hat in Cambridge zwei Welt-Computerfirmen gegründet und geholfen, um die Elite-Universität herum ein britisches Silicon Valley aufzubauen. Den Deutschen fehle der leichte Zugang zu Risikokapital, sagt er, aber schwieriger sei der kulturelle Schritt, „Leuten das Gefühl zu geben, dass es okay ist, wenn sie mit dem Gewohnten brechen“.

Bei Angela Merkel rennt er da, theoretisch, offene Türen ein: „Jede Innovation wird auch ein Risiko haben, sonst wär’ sie keine“, sagt die Kanzlerin. Und dass es gut wäre, nicht bei jeder neuen Idee gleich zu gucken, was dagegensprechen könnte. Aber gerade im Sozialbereich sei der Spielraum deutscher Regierungen dann doch eng, da werde einem schnell Einmischung in die Arbeit der unzähligen Initiativen in freier Trägerschaft vorgehalten. „Wir haben gewaltige Besitzstände“, seufzt die Kanzlerin: Die Energiekonzerne, die Caritas ... Merkel stutzt kurz über sich selbst. „Das war jetzt keine Kampfansage an die großen Sozialverbände!“, fügt sie rasch an. Dann gibt sie dem Wissenschaftler Herrn Tuli sein Tablet zurück.

Dieser Text erschien in der "Agenda" vom 3. Februar 2015 - einer neuen Publikation des Tagesspiegels, die jeden Dienstag erscheint. Die aktuelle Ausgabe können Sie im E-Paper des Tagesspiegels lesen.

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