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Ein Kreuz kann man auch bei der Sozialwahl machen - aber nur, wenn die eigene Kasse das auch so will.

© TSP

Selbstverwaltung in Kranken- und Rentenkassen: Zankapfel Sozialwahl - Sozial...was?

Noch zwei Wochen können auch Sie wählen. Bei der Sozialwahl. Wenige wissen das. Kritiker sehen die Wahl eh als „Kungelei“, doch Reformen scheiterten immer wieder.

Von Ronja Ringelstein

So flimmert es dieser Tage über die Bildschirme: Vier Menschen öffnen ihren Briefkasten, holen einen Briefumschlag heraus. Eingeblendet wird der Spruch: „Bedeutende Entscheidungen sind häufig nicht sofort zu erkennen.“ Dann sieht man, wie ein Mann einen Kleiderschrank öffnet: Die schwarze oder die blaue Krawatte? Eine Frau, die ein abstraktes Kunstwerk aufhängt: aber wie herum?

Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) Nord hat das Video in Auftrag gegeben, es ist auf Youtube zu finden. Wie auch Videos von der Gewerkschaft Verdi, der DAK-Gesundheit, der Techniker Krankenkasse, der IG Betriebliche Krankenkassen und etlichen anderen. Millionensummen werden in die Werbemaßnahmen gesteckt. Worum es geht, wird trotzdem den wenigsten klar: die drittgrößte Wahl Deutschlands – die Sozialwahl, mit 51 Millionen Wahlberechtigten.

Ende Mai ist Stichtag

Am 31. Mai 2017 ist Stichtag für die nächste Sozialwahl. Bis zu diesem Tag werden die Selbstverwaltungsgremien der gesetzlichen Sozialversicherungsträger gewählt. Alle sechs Jahre rühren die Gesetzlichen Kranken- und die Rentenversicherungen kräftig die Werbetrommel, damit die Menschen, die den roten Umschlag in ihrem Briefkasten finden, ein Kreuzchen machen und ihn zurückschicken. „Gelebte Demokratie. Die Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherungen, Unfallversicherungen und Rentenversicherungen bestimmen damit ihre eigenen Lobbyisten“, heißt es in einem Erklärvideo.

Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Von „Pseudodemokratie“ sprechen Kritiker. Dass die Sozialwahl nicht das ist, was sie sein könnte, sagen die moderateren Stimmen. Einig sind sich aber bis in oberste politische Riege alle: So, wie die Wahl ist, kann sie nicht bleiben. Es gilt, ihre Akzeptanz zu erhöhen. Denn es geht um das hohe Gut der Selbstverwaltung, das Mitbestimmungsrecht der Bürger.

Selbstverwaltung - eigentlich eine gute Sache

In den Krankenversicherungen zum Beispiel, wo die versicherten Mitglieder den Verwaltungsrat wählen können. Der hat höchstens 30 Mitglieder, ehrenamtliche Versicherten- und Arbeitgebervertreter. Sie werden über Listen gewählt, auch Gewerkschaften machen eigene Listen, auf denen sich Gewerkschaftsmitglieder, die in der jeweiligen Krankenkasse sind, zur Wahl stellen. Ist der Verwaltungsrat der Krankenversicherung gewählt, ist es seine Aufgabe, den Haushalt zu beschließen. Was für Versicherte aber vor allem interessant sein dürfte: Er entscheidet auch über Höhe und Art der Zusatzleistungen, die die Krankenkasse übernimmt.

Auch bei der Rentenversicherung wählen Versicherte und Rentner ihr Gremium, hier heißt es Vertreterversammlung. Die Gewählten entscheiden sechs Jahre über Finanzen und Organisation.

Trotz der großen Bedeutung scheinen die Wahlberechtigten ihre Möglichkeiten zur Mitbestimmung nicht wirklich auszuschöpfen: Beim letzten Mal, 2011, lag die Wahlbeteiligung bei etwa 30 Prozent. Doch die Bundeswahlbeauftragte der Sozialwahl, CDU-Politikerin Rita Pawelski, findet die Beteiligung gar nicht so schlecht. „Für mich ist eine freie Wahl das Rückgrat der Demokratie“, sagt sie.

Mit der „Freiheit“ bei dieser Wahl ist es aber so eine Sache. Tatsächlich führen von den 161 Versicherungsträgern nur zehn eine echte Urwahl durch. Alle anderen bedienen sich einer anderen Demokratievariante, die der Gesetzgeber ins Sozialgesetzbuch (SGB) geschrieben hat.

Die meisten Kassen lassen gar nicht wählen, nennen das "Friedenswahl"

Sie führen sogenannte Friedenswahlen durch, sprich: Wahlen ohne Wahlhandlung. Hier sind genau so viele Kandidaten auf der Liste, wie es freie Plätze im Verwaltungsrat des jeweiligen Trägers gibt. Gewählt werden muss in diesen Fällen also gar nicht mehr wirklich. „Eine deutliche Mehrheit der in den gesetzlichen Krankenversicherungen Versicherten wählt auch dieses Jahr nicht – wie schon seit Jahrzehnten, denn die Listen stehen schon fest“, sagt Bernard Braun vom Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik der Universität Bremen. In gewisser Weise sei die Sozialwahl deshalb eine Farce. „Formaljuristisch muss man die Informationskampagnen machen“, sagt Braun. Denn das steht im Gesetz. „Es muss Landes- und Bundesbeauftragte für die Durchführung der Sozialwahlen geben. Die müssen sich so verhalten, als fänden Wahlen statt.“ Und zwar auch dann, wenn es sich nur um Friedenswahlen handelt, also niemand wirklich die Wahl hat. „Diesen Konflikt verstehen wir auch nicht. Das Dilemma muss der Gesetzgeber regeln“, heißt es beim Verband der Ersatzkassen (vdek).

Mit "Zufall" hat das nichts zu tun

Dieser Verband spricht sich für die Durchführung von Urwahlen aus – die Mitglieder halten sich auch daran. Bis auf eines: die Hanseatische Krankenkasse (HEK). Sie führt seit 1999 Friedenswahlen durch, ihre Versicherten haben also nicht die Wahl. Fragt man, warum, heißt es, die HEK selbst könne auch nichts dafür. Die zugelassenen Vorschlagslisten seien eben zufällig immer nur genau so lang, wie die Anzahl der 15 Plätze im HEK-Verwaltungsrat. „Sobald ein 16. Kandidat da wäre, würde eine Urwahl durchgeführt werden“, sagt der Pressesprecher. Dieses Jahr wurden drei Vorschlagslisten eingereicht. Eine vom DGB, da stand ein HEK- Mitglied drauf, von Verdi „kandidieren“ drei und von der HEK Interessengemeinschaft elf. Zusammen sind das 15, mit Ablauf des 31. Mai gelten die als gewählt. „Zufällig“, wie man das bei der HEK nennt, ist es aber natürlich nicht.

„Wir Gewerkschaften haben immer das Problem, dass wir am Ende einer Urwahl keine Sitze bekommen“, sagt Axel Schmidt, Referent der Abteilung Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik bei Verdi. Ihre Erfahrung zeigt: Die Bürger wählen Gewerkschaften nur selten, weshalb diese sich die Plätze mit den anderen Listenträgern lieber vorher aufteilen, als am Ende ganz leer auszugehen. So spart man sich die Urwahl. Dem Versicherungsträger kann es recht sein, er spart sich die Werbe- und Portokosten für die Briefe an seine Mitglieder, die bei der Sozialwahl übergangen werden, wenn es eine Friedens- und keine Urwahl gibt. Als „Kungelei“ bezeichnen die Kritiker diese Vorgänge – seit Jahren.

Im Koalitionsvertrag war eine Reform verabredet - sie scheiterte

Tatsächlich hatten Union und SPD 2013 in den Koalitionsvertrag geschrieben, eine Reform der Sozialwahlen umzusetzen; im Schlussbericht des Bundeswahlbeauftragten der letzten Sozialwahl hatte der bereits die Durchführung von Urwahlen, die Einführung einer Frauenquote und die Ermöglichung von Online- Wahlen gefordert, um die Wahlbeteiligung zu steigern. Doch die Verhandlungen zwischen SPD und Union scheiterten – und keiner der Punkte wurde verändert.

„So, wie es jetzt ist, ist das Verfahren undemokratisch und intransparent“, sagt Reiner Holznagel, Präsident des Bunds der Steuerzahler. Ihn stören auch unnötige Kosten. 2011 kostete die Wahl pro Wahlberechtigtem 93 Cent. Das dürfte ein Richtwert auch für dieses Jahr sein. Das bezahlen die Sozialversicherten, also der Steuerzahler. Das, was die Wahl teuer macht, ist das Porto für die Briefwahl. „Im Zeitalter der Medien sollten wir mehr Effizienz schaffen, eine Briefwahl ist einfach nicht zeitgemäß“, sagt Holznagel.

Als Wahlkampfthema scheint die Wahl zu kompliziert

Bundeswahlbeauftragte Pawelski findet, das müsse einem Demokratie wert sein. Dass die Sozialwahl verändert wird, fordert aber auch sie: „Ich habe mit beiden Fraktionsvorsitzenden, Herrn Oppermann und Herrn Kauder, gesprochen. Beide haben mir Gespräche nach der Bundestagswahl zugesagt. Darauf werde ich mit Sicherheit zurückkommen.“

Die Reform der Sozialwahl eignet sich nicht gerade als Wahlkampfthema. Zu kompliziert. Kritiker bemängeln außerdem, die Verwaltungsräte hätten doch sowieso kaum noch Spielräume. „Vom Leistungskatalog der Krankenkassen sind ja rund 95 Prozent gesetzlich geregelt“, sagt auch Holznagel. Damit sinkt natürlich auch die Motivation der Wähler, ihre Selbstverwaltung zu wählen.

Das sieht Wissenschaftler Braun anders. Im Sozialgesetzbuch stehe schließlich, der Verwaltungsrat habe insbesondere alle Entscheidungen zu treffen, die für die Krankenkasse von „grundsätzlicher Bedeutung“ sind. „Das widerspricht der Behauptung, der Gesetzgeber lasse einem keinen Spielraum“, sagt Braun. Er hält die Selbstverwaltung für enorm wichtig. Die Sozialwahl schwäche sich aber durch Undurchsichtigkeit und das Verfahren selbst. Gibt es in der nächsten Legislatur erneut keine Reformen, wird sich daran aber auch wieder nichts ändern.

Der Text erschien in "Agenda" vom 09. Mai 2017, einer Publikation des Tagesspiegels, die jeden Dienstag erscheint. Die aktuelle Ausgabe können Sie im E-Paper des Tagesspiegels lesen.

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