zum Hauptinhalt
Ruhezone. Nicht nur wegen ihrer Straftaten, auch wegen ihrer Worte genießen Abgeordnete Schutz vor Gerichten.

© dpa

Volksvertreter: Immunität - ein Privileg, das zum Pranger werden kann

Der Politiker-Schutz vor willkürlicher Strafverfolgung ist Uralt-Parlamentsrecht. Aber wie es ausgestaltet wird, ist nicht in Stein gemeißelt.

Mit seinem Vorstoß, die Immunität von Bundestagsabgeordneten abzuschaffen, dürfte Parlamentspräsident Norbert Lammert nicht nur die Öffentlichkeit, sondern auch die Abgeordneten überrascht haben. Die Öffentlichkeit deshalb, weil die grundgesetzlich festgeschriebene „Unantastbarkeit“ der Parlamentarier gegenüber Strafverfolgern vielfach als Privileg erachtet wird. Weshalb sollten die Volksvertreter – und nur sie könnten dies – ihre Vorrechte stutzen wollen? Für die Abgeordneten wiederum gehört die Immunität zum parlamentarischen Traditionsbestand, den kaum jemand infrage stellt. Dabei ist an den Regeln, wie sie heute sind, nichts selbstverständlich – und nichts ewig. Lammert empfindet sie sogar als Last, weil durch die Publizität des Verfahrens Vorverurteilungen gefördert würden. Möglich, dass er mit seinen Worten jetzt nur einer Entwicklung vorausgreift, die ohnehin folgen könnte.

Warum, das lässt sich am Fall des Abgeordneten Volker Beck studieren. Nachdem die Polizei den Grünen-Politiker wegen Verdachts auf Drogenbesitz aufgegriffen hatte, hieß es bald in den Nachrichtenmedien, nunmehr habe die Staatsanwaltschaft die Aufhebung seiner Immunität beantragt, woraufhin der Bundestag sie auch aufgehoben habe. Eine in jeder Hinsicht falsche Darstellung, bei der sich aber ein Eindruck verfestigte: Beck verliert seine politischen Weihen. Es muss also etwas dran sein an den Vorwürfen.

In Wahrheit ist der Vorgang komplizierter und hat mit der Verdachtslage gegen Beck wenig zu tun. Die Immunität ist zusammen mit der sogenannten Indemnität in Artikel 46 des Grundgesetzes verankert. Die Indemnität ist die Garantie parlamentarischer Redefreiheit: Kein Abgeordneter darf wegen seiner Worte im Hohen Haus oder in den Ausschüssen gerichtlich zur Verantwortung gezogen werden. Ein Schutz, der auch über die Mandatszeit hinaus gilt. Anders die Immunität. Deren Schutz endet mit dem Mandat.

Dem Immunitätsartikel zufolge darf kein Abgeordneter wegen Straftaten zur Verantwortung gezogen werden – es sei denn, der Bundestag erteilt dafür eine „Genehmigung“. Die Vorschrift will nicht einzelne Mandatsträger privilegieren, sondern das Parlament insgesamt davor schützen, durch willkürliche Übergriffe der Exekutive arbeitsunfähig zu werden. Die Parlamentarier legen deshalb traditionell Wert darauf, dass der Immunitätsschutz nicht so erscheint, als würden Mandatsträger gegenüber Normalsterblichen bevorzugt. Um dies auszuschließen, haben sie eine kleinteilige bürokratische Praxis etabliert, wie die nötige „Genehmigung“ stufenweise zu erteilen ist.

Zunächst trifft der Bundestag zu Beginn jeder Wahlperiode einen Beschluss, mit dem strafrechtliche Ermittlungen pauschal genehmigt werden. Allerdings müssen die Ermittler ihre entsprechenden Absichten im Einzelfall bei Parlamentspräsident Lammert anzeigen. Erst 48 Stunden nach Eingang dürfen sie loslegen: Beweismittel sammeln, Zeugen befragen und dergleichen. Damit enden die Befugnisse. Für eine Hausdurchsuchung beim Beschuldigten muss der Bundestag erneut befasst werden, ebenso wie für eine Anklageerhebung oder den Erlass eines Strafbefehls. Dafür stellen die Ermittler einen Antrag beim Parlamentspräsidenten, den dieser an den Immunitätsausschuss weiterleitet. Bei schwereren Delikten prüft der Ausschuss den Antrag auf seine Plausibilität. Mehr nicht. Ob die Beweise ausreichen, ist nicht Sache des Parlaments. Sodann geht eine Beschlussempfehlung ans Plenum, in der der Abgeordnete, jedoch nicht das Delikt genannt wird. Entschieden wird ohne Aussprache. In Bagatellfällen, etwa Straßenverkehrsdelikten, führt der Ausschuss einstimmig eine sogenannte Vorentscheidung herbei, bei der die Abgeordneten ohne förmliche Drucksache über den Fall informiert werden. Widerspricht niemand, wird die Ausschuss-Entscheidung für alle bindend. Erst mit diesen Schritten wird tatsächlich die „Immunität aufgehoben“, wie es umgangssprachlich heißt.

Das geschieht in jeder Legislaturperiode ein paar Mal, meist ohne dass die Öffentlichkeit davon Notiz nimmt. Die im Wege der Vorentscheidung erledigten Verfahren bleiben meist ganz verborgen. Von prominenten Fällen wie denen der SPD-Abgeordneten Michael Hartmann (Drogen) oder Jörg Tauss und Sebastian Edathy (Kinderpornos) erfahren die Medien ohnehin.

Volker Beck ist mit seinem Strafverfahren noch ein gutes Stück davon entfernt. Trotzdem steht er bereits am Immunitätspranger: Allein die öffentlich viel beachtete Anzeige der Ermittler bei Lammert genügte, um ihn mit der angeblichen Aufhebung des Strafverfolgungsschutzes öffentlich zu stigmatisieren. Die Einzelheiten des Verfahrens sind dabei den meisten kaum bekannt. Die wenigsten wissen, dass der Bundestag, wenn er vermeintlich grünes Licht gibt, keine Aussage über Schuld oder Unschuld trifft. Mit der Abschaffung der Immunität wären Strafverfahren wieder Privatsache der Abgeordneten – wie bei anderen Bürgern auch.

Die mit der Angelegenheit befassten Politiker im Immunitätsausschuss reagieren dennoch reserviert. Der Vorsitzende Johann Wadephul lehnt jede Änderung kategorisch ab. Christine Lambrecht (SPD) erinnert an die Verhaftungen missliebiger Politiker durch die Nazis. Das Grundgesetz habe hier eine „Mahn- und Wächterfunktion“. Die Grünen-Abgeordnete Britta Haßelmann verweist ebenfalls auf die Gefahren politisch motivierter Strafverfolgung. „Der Schutz der Immunität kann auch heute noch sinnvoll sein.“

Noch empfindlicher reagiert die Linken-Abgeordnete Petra Sitte: „Wir hatten Fälle, bei denen gerade Abgeordnete unserer Fraktion anders von der Staatsanwaltschaft behandelt wurden als Verdächtige in ähnlichen Fällen oder gar Abgeordnete anderer Fraktionen in ähnlichen Fällen.“ Dabei sei es um Delikte im Zusammenhang mit Meinungsäußerungen oder Aktionen des zivilen Ungehorsams gegangen. Auch die SPD-Abgeordnete Sonja Steffen fordert, der Bundestag müsse prüfen können, ob Staatsanwälte nach Sitzblockaden oder anderen politischen Aktionen willkürlich ermitteln. Andererseits sieht auch Steffen das Risiko, dass Politiker-Delikte „wegen der Immunitätsprüfung zwangsläufig an die Öffentlichkeit“ gelangen. Ausschuss-Vize Kristina Schröder (CDU) spricht sogar selbst von einem „Pranger für Abgeordnete“.

Alternativen sind denkbar. In den Parlamenten in den USA und England wird Immunität weit weniger hoch gehandelt, hier steht die Indemnität als bewahrenswert im Vordergrund. Die Niederlande verzichten sogar ganz auf den Strafverfolgungsschutz. Auch die Verfassungen der Bundesländer regeln die Angelegenheit unterschiedlich. Lammert favorisiert das Modell Brandenburg, wo sich das Parlament nur eine Art Einspruchsrecht vorbehält. In Hamburg sind zumindest Ermittlungen ohne Weiteres möglich, auch ohne Anzeige bei der Bürgerschaft.

Der Bundestagspräsident möchte vermutlich einen Anstoß geben, Vor- und Nachteile neu miteinander abzuwägen, gerade in Zeiten verstärkter Medienöffentlichkeit. Nicht nur der Fall Beck zeigt, dass es dafür an der Zeit ist.

Der Text erschien in der "Agenda" vom 22. März 2016, einer Publikation des Tagesspiegels, die jeden Dienstag erscheint. Die aktuelle Ausgabe können Sie im E-Paper des Tagesspiegels lesen.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false