zum Hauptinhalt
Kleine Helfer, große Geschäfte. Viele Pharmahersteller unterstützten Selbsthilfegruppen, um ihre Produkte besser in den Markt zu bekommen.

© dpa

Warum die Pharmaindustrie Selbsthilfegruppen finanziert: Heimliche Helfer

In Deutschland gibt es für fast jede Krankheit eine Selbsthilfegruppe. Die Pharmaindustrie unterstützt diese Organisationen mit Millionen.

Um ihre Produkte unters Patientenvolk zu bringen, sind in Deutschland rund 15 000 Pharmareferenten auf Achse. Sie besuchen Ärzte in ihren Praxen, bringen Geschenke mit, bezahlen sie für fragwürdige Anwendungsstudien. Mehr als 90 Prozent aller ärztlichen Fortbildungen sind noch immer von Pharmafirmen gesponsert, schätzen Experten.

Allerdings wird diese Art der Kundenpflege zunehmend schwieriger. Dank eines Antikorruptionsgesetzes droht nun auch niedergelassenen Ärzten Strafverfolgung, wenn sie allzu offensichtlich die Hand aufhalten. Viele Mediziner sind im Zuge der Diskussion darüber deutlich sensibler geworden. Und um ihr Negativimage loszuwerden, haben sich auch die Hersteller selber zu einer Transparenzoffensive aufgerafft. Von 2016 an wollen sie im Internet auflisten, welche Ärzte, Apotheker und Kliniken mit ihnen zusammenarbeiten – und was die dafür kassieren.

Werbung verboten, Kontaktpflege erlaubt

Bleibt, wenn die Mediziner diesem Outing zustimmen, denn das wird vorausgesetzt, eine zweite große Marketingschiene der Pharmaindustrie: das „Direct to Consumer“-Prinzip (DTC). Zwar ist Werbung für verschreibungspflichtige Arznei in Europa außerhalb der Fachkreise aus gutem Grund verboten. Doch wenn man den Kontakt zu potenziellen Abnehmern pflegt, sich als ihr Anwalt geriert, das Engagement gegen die jeweilige Krankheit gebührend hervorhebt, rückt das auch die eigenen Produkte in positives Licht. Und Patientendruck beeinflusst das Verschreibungsverhalten der Mediziner allemal.

Interessant sind für die Industrie vor allem chronisch Kranke, die beständig auf Arznei angewiesen sind und es daher in der Marketingsprache auf den höchsten „Lebenszeit-Wert“ (customer lifetime value) bringen. Erreichbar ist diese Zielklientel ganz einfach: über Selbsthilfegruppen. Schätzungen zufolge gibt es davon hierzulande bis zu 60 000.

Zugang zu 1,2 Millionen Patienten

Von Krebskranken und Sehbehinderten über Borreliosegeschädigte und Organtransplantierte bis hin zu „Kehlkopflosen“ und „Polio-Betroffenen“: Abgedeckt sei „nahezu jede Krankheit oder Behinderungsart“, sagt Martin Danner, der Geschäftsführer ihrer Bundesarbeitsgemeinschaft, die auf 120 Dachverbände mit 1,2 Millionen Mitgliedern kommt. All diese Gruppen und Grüppchen informieren und publizieren, sie gelten durch ihre Spezialisierung als ebenso kompetent wie vertrauenswürdig. Und sie finanzieren sich – was viele nicht wissen – zu einem Gutteil aus Zuwendungen der Pharmaindustrie.

Mit rund 5,6 Millionen Euro haben die großen Arzneihersteller nach eigenen Angaben im Jahr 2013 Patientenorganisationen unterstützt. Das wären zwölf Prozent dessen, was die Selbsthilfegruppen momentan von den gesetzlichen Kassen erhalten. Nachzulesen ist das in einer Onlinedatenbank des „Spiegel“, die für das fragliche Jahr – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – mehr als 1300 Einzelspenden auflistet. Größter Spender war demnach Boehringer Ingelheim mit mehr als 1,1 Millionen Euro, gefolgt von Abbvie mit 818 164 Euro, Novartis mit 516 549 Euro und Pfizer mit 438 954 Euro.

Zuwendungen sind nicht selbstlos

All dem fehlt der Hinweis auf Risiken und Nebenwirkungen. Natürlich seien solche Zuwendungen nicht selbstlos, sagt Wolf-Dieter Ludwig, Chef der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft. Die Selbsthilfeorganisationen würden, so behauptet er, von der Pharmaindustrie „ganz gezielt benutzt“, um neue teure Medikamente mit zweifelhaftem Nutzen „in den Markt zu drücken“.

Ludwig verweist darauf, dass die Branche in einer „Innovationskrise“ stecke und daher stärker denn je auch auf solche Vermarktung angewiesen sei. Beliebte Methode: Die gesponserten Publikationen, Internetforen und Veranstaltungen werden mit „Fachjournalisten“ und „Experten“ bestückt, die auf ihren Lohnlisten stehen. Und Verbandsmitgliedern würden Mediziner mit engen Kontakten zur Pharmaindustrie empfohlen.

In einer aktuellen Broschüre weist der Ersatzkassenverband VdEK auf besonders enge Verbandelungen hin. Da ist zum Beispiel der Verein „Das Lebenshaus“, der Krebskranke unterstützt und sich nach eigenen Angaben „ohne Einflussnahme Dritter“ finanziert. Tatsächlich flossen 2013 mindestens 165 933 Euro aus der Pharmabranche auf das Konto der auf Nierenkrebs, Sarkome und seltenen Magen-Darm-Krebs spezialisierten Gruppe.

Am großzügigsten: Pfizer, Bayer und Novartis

Am großzügigsten waren Pfizer, Bayer und Novartis – die passenderweise auch teure, neue Arznei gegen ebendiese Krebsarten im Portfolio haben. Die Gegenleistung: Auf der Lebenshaus-Homepage werden exakt diese Mittel angepriesen. Berichte über Nebenwirkungen oder gar Kritik an der Preispolitik der Hersteller finde sich dort mit keinem Wort, kritisieren die Versicherer.

Solche Win-win-Beziehungen sind keine Ausnahme. Das Brustkrebs-Netzwerk „mamazone“ erhielt mit seinen angeschlossenen Stiftungen mehr als 130 000 Euro aus der Industrie – vornehmlich von der auf Brustkrebstherapie spezialisierten Firma Roche.

Und die „Restless-Legs- Vereinigung“ wird von Herstellern unterstützt, die Mittel gegen das „Syndrom der unruhigen Beine“ feilbieten. Ihnen dürfte gefallen, dass die Selbsthilfegruppe für mehr Behandlung und bessere Diagnostik trommelt. Schließlich hegen Experten nicht nur Zweifel, ob der nächtliche Bewegungsdrang unbedingt mit starker Arznei behandelt werden muss, sondern auch den Verdacht, dass dies das Syndrom womöglich sogar verschlechtern könne.

Selbstdarstellung beim Pharmaverband

Berührungsängste scheinen auch andere Patientenorganisationen nicht zu kennen. 84 Gruppen nutzen etwa das „Patientenportal“ des Verbands forschender Arzneihersteller, um sich im Internet zu präsentieren. In vielen Fragen der Forschungs- und Gesundheitspolitik gebe es „gemeinsame Interessen der Patienten und der forschenden Arzneimittelhersteller“, argumentiert der Anbieter. „Offen, konstruktiv, kritisch und transparent erörtern wir gemeinsam die Situation der gesundheitlichen Versorgung in Deutschland.“ Zum Beispiel bei Veranstaltungen, für die man auf Antrag die Reisekosten von Patientenvertretern übernehme.

Es sei „naiv zu glauben“, dass die Industrie mit all dem keine versteckten Ziele verfolge, sagt der Gesundheitswissenschaftler Jörg Schaaber von der kritischen Buko-Pharmakampagne. Und der Bremer Arzneiexperte Gerd Glaeske zitiert US-Studien, wonach jeder Dollar, der in Patienteninformation fließt, den Umsatz um 4,20 Dollar steigert. Die Investition in Patienten sichere mehr Absatz und Profit „als alle Marketingaktivitäten in Arztpraxen“. Kranke erwiesen sich, derart instrumentalisiert, als „die unverdächtigeren und wirksameren Pharmareferenten“.

Gefahr für die Patienten

Der Onkologe Ludwig sieht darin eine Gefahr für Patienten. Schließlich machten mit Herstellern verbandelte Selbsthilfegruppen auch Druck auf die Verbreitung wenig erprobter Arznei. Er würde es daher am liebsten sehen, wenn es diese Art des Sponsorings gar nicht mehr gäbe, sagt der Mediziner.

Doch ohne die Industriemillionen müsste manche Patientenorganisation ihre Aktivitäten stark reduzieren oder ganz einstellen. Und was, so argumentieren ihre Vertreter, sei schlimm daran, dass Patienten mit denen kooperierten, die an Mitteln zur Heilung oder Linderung ihrer Krankheiten forschen?

So versuchen es ihre Funktionäre mit Selbstverpflichtungen. Mehr als 15 Prozent aller Einnahmen dürften Firmenspenden nicht ausmachen, postuliert BAG-Chef Danner. Auf Aufforderung müssten Industriezuwendungen offengelegt werden. Und notfalls sei auch über den Ausschluss dubioser Selbsthilfegruppen aus dem Verband nachzudenken.

Kein Interesse an gemeinsamem Fördertopf

Die Chefin des Ersatzkassenverbandes, Ulrike Elsner, bringt noch eine andere Lösung ins Spiel: einen gemeinsamen Fördertopf, in den alle Spendenwilligen einzahlen. Eine unabhängige Instanz könne das Geld aus diesem Pool dann an Selbsthilfeorganisationen verteilen – als Zuschuss für laufende Arbeit oder bestimmte Projekte. Pharmafirmen, die es mit ihrem Engagement für Patienteninteressen ernst meinten, könnten gegen eine solche Sammelstelle nichts haben, meint Elsner.

Aufgegriffen wurde der Vorschlag, den vorher schon andere gemacht haben, bisher nicht. Offenbar gibt es auch unter den Selbsthilfe-Vertretern, die eine Einflussnahme der Industrie bestreiten, nur wenige, die sich auf derart selbstlose Spendenbereitschaft verlassen möchten.

Zur Startseite