zum Hauptinhalt
Hier tobt das Leben. In Friedrichshain-Kreuzberg ist der multikulturelle Charakter in Gefahr, weil immer mehr Platz für die Touristen gemacht wird und Anwohner wegen steigender Mieten umziehen müssen.

© dpa

Berlins Wahlkreise im Blick: Rot-rot-grüner Wettstreit in Friedrichshain-Kreuzberg

Hans-Christian Ströbele, Cansel Kiziltepe und Halina Wawzyniak stellen sich in Friedrichshain-Kreuzberg zur Wahl. Der Kampf gegen rasant steigende Mieten eint die Kandidaten von Grünen, SPD und Linken. Aber nur einer von ihnen genießt im Kiez echten Kultstatus.

Von Sabine Beikler

Grüner wird’s nicht. Wenn Hans-Christian Ströbele durch seinen Wahlkreis läuft, spürt man die symbiotische Beziehung zwischen ihm und seinen Wählern. Ströbele ist einer von ihnen, einer, der alterslos ist in diesem Kiez – trotz seiner 74 Jahre. Einer, dem „sein“ Wahlvolk Respekt entgegenbringt. „Mensch, der Ströbele. Ich fall in Ohnmacht. Dass ich das noch erleben darf“, freut sich ein Mittzwanziger mit Spitzbart, ganz ohne sarkastischen Unterton. Bier trinkend liegt er auf einer Decke am Urbanhafen, als ihm der Grünen-Politiker den Wahlflyer mit den Worten „Zur Bundestagswahl. Der Kandidat“ in die Hand drückt. Ein anderer Mann, Glatze, tätowiert, Zigarette drehend, neben ihm „een ganz lieber“ Kampfhund, nimmt den Flyer und will unbedingt ein Foto mit Ströbele und dem Hund. Dann bedankt er sich, nickt Ströbele anerkennend zu und verabschiedet ihn mit „viel Spaß und weiter so“.

Top-Thema ist die Entwicklung der Mieten

Zum vierten Mal kämpft der Bundestagsabgeordnete in dem Ost-West-Wahlbezirk – 226 000 Wahlberechtigte – um das Direktmandat. Bessere Prognosen als er hat laut Wahlforscher kein anderer Direktkandidat in Berlin. Vor vier Jahren erzielte er in Friedrichshain, Kreuzberg und Prenzlauer Berg Ost, die Gegend östlich der Prenzlauer Allee, 46,7 Prozent. Ein urbaner Wahlbezirk, in dem junge Leute, Migranten, Hartz-IV-Empfänger, immer weniger Senioren, dafür immer mehr Besserverdiener, Singles wie Kleinfamilien, wohnen. In jedem Quartier sind die Folgen der sozialen Verdrängung und die Auswüchse der Gentrifizierung sichtbar. Die Entwicklung der Mieten ist das Thema Nummer eins.

Hans-Christian Ströbele will in den Bundestag einziehen - zum vierten Mal bewirbt er sich um das Direktmandat.
Hans-Christian Ströbele will in den Bundestag einziehen - zum vierten Mal bewirbt er sich um das Direktmandat.

© dpa

Gerade werden die Stände für das „Fest gegen Rassismus“ auf dem Blücherplatz aufgebaut. Ströbele schiebt sein Fahrrad mit Sitzfellauflage und dem Schriftzug „Dienstwagen“ am Rahmen dort entlang, als er angesprochen wird. „Na, bist du wieder gesund?“ Ströbele antwortet: „Ich hab das hinter mir. Ich bin im Wahlkampf. Und die Prognose ist positiv.“ Der Kandidat spricht von seiner Krankheit. Letztes Jahr hat er einen Bestrahlungsmarathon gegen den diagnostizierten Prostatakrebs hinter sich gebracht und doch „keine einzige Bundestagssitzung verpasst“. Das sagt er nicht ohne Stolz. Erst im Dezember hat Ströbele erklärt, dass er noch einmal antreten werde.

Kiez-Charakter muss Touristen weichen

Für einen anderen Kreuzberger ist es „eine Frage der Ehre, dass der Direktkandidat hier wieder gewinnt“. Wenn Ströbele durch den „Graefekiez“ rund um Grimm- und Urbanstraße läuft, hat er quasi ein Heimspiel. Mitte der neunziger Jahre drohte der Kiez sozial abzurutschen. Umfangreiche Altbausanierungen folgten, die Mieten stiegen, die ersten Mieter mussten ausziehen. „Dann kamen grüne Mittelstandsleute“, erzählt ein Alt-Kreuzberger. Heute wohnen hier viele Architekten, Medienleute oder Selbstständige.

Basierend auf den alten Berliner Postleitzahlen wird Kreuzberg in den kleineren Teil Südost 36 und das größere Südwest 61 eingeteilt. Der  Bergmannkiez rund um den Chamissoplatz war seit jeher bürgerlicher als SO 36. Wie ein Fremdkörper zwischen all den restaurierten Häusern ist ein Wohnprojekt der „Berliner Stadtmission“ für ehemals Obdachlose mit Suchtproblematik untergebracht. Ein Betreuer erzählt, die alte „Kiez-Charakteristik“ sei kaum noch existent. Stattdessen fahren dort Reisebusse voller Touristen entlang und besichtigen den „neuen Glanz von Kreuzberg“.

Ströbele: "Der alternative Multikulti-Charme geht kaputt"

Den sozialen Wandel, den Kreuzberg 61 erlebt hat, macht heute SO 36 durch. Existierten früher im Wrangelkiez türkische Teeläden, Dönerbuden neben Kneipenkollektiven, reihen sich dort „Streetfood“-Läden für junge Touristen. Jetzt musste selbst ein Kinderladen in der Falckensteinstraße wegen der explodierenden Mieten schließen. 1200 Euro für eine Dreizimmerwohnung seien im Kiez „normal“, erzählen Anwohner. Wie ein Mahnmal trotzt das älteste Fischfachgeschäft Berlins „Fisch Schmidt“, 1908 gegründet, in der Wrangelstraße noch dem Umbruch.

SPD-Kandidatin Cansel Kiziltepe sagt: "Das ist mein Kiez. Ich vertrete meinen Wahlkreis als jüngerer Mensch vielleicht besser als er."
SPD-Kandidatin Cansel Kiziltepe sagt: "Das ist mein Kiez. Ich vertrete meinen Wahlkreis als jüngerer Mensch vielleicht besser als er."

© dpa

Tödlich für den Kiez. „Der alternative Multikulti-Charme geht kaputt“, sagt Christian Ströbele. Er wohnt seit 27 Jahren in Tiergarten, kennt seinen Wahlkreis aber gut. Der Jurist fordert Milieuschutz und bundeseinheitliche Obergrenzen bei Neuvermietungen. Das wollen auch seine Gegenkandidatinnen Cansel Kiziltepe (SPD) und Halina Wawzyniak (Linke), die vor vier Jahren 17,6 Prozent der Erststimmen hinter Ströbele holen konnte. Knapp dahinter lag der SPD-Kandidat und heutige Senatskanzlei-Chef Björn Böhning. Wer bei dieser Wahl hinter Ströbele liegen wird, ist laut Wahlforschern offen.

Cansel Kiziltepe - Das Kiezkind will mit Lohnpolitik überzeugen

Cansel Kiziltepe ist 1975 im Wrangelkiez geboren und wohnt heute noch in Kreuzberg. „Ich bin ein Kiezkind“, sagt sie. Die Volkswirtschaftlerin fordert vor Berufsschülern im Oberstufenzentrum für Konstruktionsbautechnik einen gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro und spricht über prekäre Beschäftigung. Sie kennt sich gut mit Lohnpolitik aus. Nicht nur durch ihre Arbeit im Büro des verstorbenen SPD-Linken und Arbeitsmarktexperten Ottmar Schreiner. Kiziltepe arbeitet im Stab des Arbeitsdirektors von VW in Wolfsburg. Sie gehört zum linken Parteiflügel und weiß, dass sie ihre SPD-Karriere maßgeblich dem SPD-Landeschef und früheren Kreuzberger Kreischef, Jan Stöß, zu verdanken hat. Sie hat Chancen, über Listenplatz fünf in den Bundestag zu ziehen. Trotzdem kämpft sie gegen Ströbele und sagt selbstbewusst: „Das ist mein Kiez. Ich vertrete meinen Wahlkreis als jüngerer Mensch vielleicht besser als er.“

Halina Wawzyniak von der Partei Die Linke werden geringe Chancen für den Wiedereinzug in den Bundestag eingeräumt.
Halina Wawzyniak von der Partei Die Linke werden geringe Chancen für den Wiedereinzug in den Bundestag eingeräumt.

© Doris Spiekermann-Klaas

Halina Wawzyniak würde sich wieder über das zweitbeste Ergebnis im Wahlkreis freuen. Mit Listenplatz fünf hat die 40-jährige Juristin und netzpolitische Sprecherin der Fraktion aber wenig Chancen auf Wiedereinzug in den Bundestag. Wawzyniak lebt in Kreuzberg und bietet in ihrem Bürgerbüro Mieterberatungen an. „Massiv“ habe sie gegen das Mietrechtsänderungsgesetz gekämpft, sagt sie. Sie fordert Milieuschutz, auch in Friedrichshain.

Halina Wawzyniak sorgt sich um steigende Mieten

Früher ein Arbeiter- und Industriebezirk, hat sich Friedrichshain zum Szeneviertel entwickelt. Nicht nur die Simon-Dach-Straße mutierte zur Kneipen- und Flaniermeile. Auch im ehemaligen Sanierungsgebiet Bötzowviertel konkurrieren unzählige Cafés um Gäste. Kleine Handwerksbetriebe sind dort verschwunden. Und Wohnungen rund um die Marienburger Straße seien „systematisch im hochpreisigen Segment“ modernisiert und entmietet worden, sagt Wawzyniak. Besucher im „Familienzentrum Menschenskinder“ in der Fürstenwalder Straße erzählen, dass auch immer mehr Mittelschichtfamilien in Plattenbauten einziehen und Bioläden Discounter verdrängen. „Den Kiez verlassen ist wie die Stadt wechseln“, sagt eine 43-jährige gebürtige Friedrichshainerin. Sie will ihre Dreizimmerwohnung, 580 Euro warm, in den alten Stalin-Bauten in der Marchlewskistraße nicht aufgeben. Neumieter müssten für so eine Wohnung 750 Euro zahlen, sagt sie. Kein Einzelfall.

Der Kampf gegen hohe Mieten eint Ströbele, Wawzyniak und Kiziltepe. Sie sind linke Politiker, alle drei können sich Rot-Rot-Grün vorstellen. Für ein gemeinsames Ziel müsste der Wahlkreis schließlich nicht so grün bleiben.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false