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Großeinsatz. Die Feuerwehr versuchte, weitere Explosionen zu verhindern.

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20 Jahre Zugunglück Elsterwerda: Als der Himmel brannte

1997 explodierten mit Benzin beladene Waggons am Bahnhof Elsterwerda. Das Unglück jährt sich jetzt zum 20. Mal. Lesen Sie hier unseren Bericht vom 10. Jahrestag.

Von Sandra Dassler

Feuerschlucker im Zirkus sind Siegmar Pötzsch ein Gräuel, Katastrophenfilme absolut tabu. Und jedesmal, wenn der 67-Jährige am Bahnhof seiner Heimatstadt vorbeigeht, kommen die Erinnerungen: der seltsame, durchdringende Pfeifton, die Explosion, die auf ihn niederstürzende Wolke aus Dreck, Steinen und brennendem Benzin. Dann sieht er wieder seinen Freund Horst Gautsch in einer Rauchsäule verschwinden. Sieht sich selbst aus dem brennenden Feuerwehrauto springen, fühlt die Panik, als er mit den Stiefeln im vom Feuerregen geschmolzenen Asphalt kleben bleibt.

Am Dienstag wird Pötzsch diese Erinnerungen wieder aushalten müssen. Wird wie an jedem 20. November nach 1997 am Bahnhof Elsterwerda der beiden Kameraden gedenken, die hier vor zehn Jahren starben. Pötzsch wird den Witwen zunicken und den sechs Männern, die damals wie er verletzt wurden. Er wird auf seine Hände schauen, die mit der Haut seiner Oberschenkel präpariert sind. Und er wird die Bitterkeit hinunterschlucken, die ihn befällt, wenn er daran denkt, wie lange er um ein wenig Schmerzensgeld kämpfen musste.

Eine Feuerhölle breitete sich aus

Das Zugunglück von Elsterwerda am 20. November 1997 gilt als eine der verheerendsten Brandkatastrophen der Deutschen Bahn. Kurz vor sieben Uhr morgens entgleiste ein Güterzug mit 22 Kesselwagen voller Benzin im Bahnhof. Ein Wagen explodierte sofort, umstehende Gebäude begannen zu brennen.

Feuerwehrleute stehen am 20.11.1997 neben dem völlig zerstörten Bahnhofsgebäude von Elsterwerda.
Feuerwehrleute stehen am 20.11.1997 neben dem völlig zerstörten Bahnhofsgebäude von Elsterwerda.

© picture-alliance / dpa

Wenig später meldete sich der Pieper des ehrenamtlichen Feuerwehrmannes Pötzsch: „Bahnhofsbrand“ stand auf dem Display. Pötzsch sperrte den Hund, mit dem er draußen war, ein und rief seiner Frau zu: „Sagst du bitte in der Firma Bescheid? Bahnhofsbrand – wird nicht lange dauern“. Schon war der Fernsehmechaniker, der in 21 Jahren und nahezu 2000 Einsätzen bei der Feuerwehr viele Erfahrungen gesammelt hatte, auf dem Weg zum Gerätehaus. Minuten später hatte er sein Löschfahrzeug mit acht Männern zum Bahnhof gefahren und wartete auf die Rückkehr der beiden Kameraden, die erst einmal die Lage erkunden wollten.

In dieser Minute explodierte der zweite Kesselwagen. Eine Feuerhölle breitete sich aus, in der Horst Mechelk und Horst Gautsch umkamen. Pötzsch wurde von seinen Kameraden aus dem heißen Asphalt gezerrt. Sein Gesicht war unter dem Helm völlig verbrannt, ebenso wie seine Hände, mit denen er es zu schützen versucht hatte. Wochenlang lag er auf der Intensivstation, ein Dutzend plastische Operationen hat er über sich ergehen lassen müssen. Doch mehr als die Narben im Gesicht und an den Händen schmerzte ihn das Verhalten der Bahn, die er auf Schmerzensgeld verklagte.

Der Fehler lag beim Lokführer

„Am Tag nach dem Unglück kam ein Bahnmitarbeiter und brachte mir einen Brief, in dem stand, dass die Bahn die Verantwortung übernimmt und dass ich mich mit meinen Forderungen an sie wenden soll“, erzählt er. „Aber später wollte niemand mehr davon wissen. Es war entwürdigend, was die Anwälte der Bahn alles vor Gericht ins Felde führten, um zu beweisen, dass ich selbst an meinen Verletzungen schuld gewesen sei.“

Die Unglücksursache war eindeutig: Der Lokführer hatte beim Ankuppeln in Berlin vergessen, die Bremsventile zu öffnen, der Zugfertigsteller die Bremsprobe nicht ordnungsgemäß durchgeführt. Als der Lokführer kurz vor Elsterwerda das erste Mal das Tempo reduzieren musste, um über eine nur für 40 Stundenkilometer zugelassene Weiche zu fahren, merkte er, dass die Bremsen nicht funktionierten. Mit 80 Stundenkilometern fuhr er über die Weiche – und entgleiste.

Fast wäre er zu einer noch schlimmeren Katastrophe gekommen

Lokführer und Zugfertigsteller wurden später wegen fahrlässiger Tötung in zwei Fällen und fahrlässiger Körperverletzung in sieben Fällen zu Bewährungsstrafen verurteilt. Doch die Anwälte argumentierten, dass die Feuerwehr sich angesichts der Explosionsgefahr nicht in die Nähe des Bahnhofs hätte begeben dürfen. Aber niemand hatte ihnen mitgeteilt, dass ein Zug mit hochexplosiver Flüssigkeit entgleist war und dass es bereits eine Explosion gegeben hatte. Sie gingen von einem normalen Brand aus und davon, dass Menschen auf den Bahnsteigen waren, die Hilfe brauchten. „Kurz vor dem Unglückszug war die Regionalbahn eingefahren – mit vielen Schülern“, sagt der ehemalige Bürgermeister von Elsterwerda, Peter Schwarz. „Die hatten den Bahnhof glücklicherweise gerade verlassen, aber das wussten die Feuerwehrleute nicht.“

Schwarz findet es wie viele andere Elsterwerdaer beschämend, dass die Bahn im Nachhinein versuchte, den Feuerwehrleuten die Schuld in die Schuhe zu schieben, um Kosten zu sparen. Vielleicht lag es daran, dass außer Pötzsch keiner der Überlebenden sein Recht einklagte.

Ein Überlebender schreibt an den Bundespräsidenten

Pötzsch hat Tausende Euro für seinen Anwalt gezahlt und länger als fünf Jahre prozessieren müssen. 2001 – im Jahr der Freiwilligen – schrieb er an den damaligen Bundespräsidenten Johannes Rau: „Als freiwilliger Feuerwehrmann kam ich schuldlos zu Schaden. Ich bin erschüttert, dass ich nun gerichtlich gegen die Bahn vorgehen muss, um ein angemessenes Schmerzensgeld zu erhalten … . Wenn publik wird, wie freiwillige Helfer im Schadensfall behandelt werden, muss man sich nicht wundern, dass viele über ihr Amt nachdenken“. Wichtiger als die kleine Summe, die er sich am Ende vor Gericht erstritt, war Pötzsch, dass „irgendwie die Gerechtigkeit wiederhergestellt war“. Wirklich berührt und gefreut haben ihn die Zeichnungen, die ihm Elsterwerdaer Kinder nach dem Unglück malten. Und die Dankbarkeit, die viele noch heute ihren Feuerwehrleuten zollen.

Der Gedenkstein, den die Elsterwerdaer den beiden Männern widmete, die „in treuer Pflichterfüllung ihr Leben gaben“, ist noch niemals beschmiert oder beschmutzt worden, sagt Pötzsch. „Im Gegenteil. Wenn der Wind die Blumenvasen, die davor stehen, umwirft, kann man darauf wetten, dass der nächste Passant, der vorbeikommt, sie wieder hinstellt.“

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