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Brandenburg: "Bei den meisten Tragödien gibt es vorher eindeutige Warnhinweise"

Kindstötungen zählen im Gerichtsalltag eher zur Ausnahme: In schätzungsweise einem von 50 000 Fällen wird ein Kind das Opfer seiner eigenen Eltern. Dennoch lösen die Fälle immer wieder breite Empörung und Ratlosigkeit aus.

Kindstötungen zählen im Gerichtsalltag eher zur Ausnahme: In schätzungsweise einem von 50 000 Fällen wird ein Kind das Opfer seiner eigenen Eltern. Dennoch lösen die Fälle immer wieder breite Empörung und Ratlosigkeit aus. Wie beispielsweise der jüngste Fall aus Frankfurt / Oder: Eine junge Mutter hatte ihre drei und vier Jahre alten Jungen zwei Wochen lang allein in der Mietswohnung gelassen.Die Kinder waren verdurstet. Katja Füchsel sprach mit dem Psychiater Andreas Marneros über die Ursachen solcher Familientragödien. Professor Marneros ist Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Martin-Luther-Universität in Halle. Kommt ein Kind durch die Hand der eigenen Mutter zu Tode, werden die Frauen oft als eiskalt und grausam beschrieben. Deckt sich dieses Bild mit Ihren Erfahrungen? Eher im Gegenteil. Die Mütter leiden in der Regel vor und während der Tat unter schweren Depressionen oder Psychosen. Häufig sind sie gar nicht in der Lage, das Unrecht der Tat einzusehen. Warum töten Mütter ihre Kinder? Wir unterscheiden vier Arten von Kindstötungen: Erstens die Tötung nach sogenannter negierter Schwangerschaft. Zweitens den erweiterten Selbstmord. Drittens im Rahmen von wahnhaften oder halluzinatorischen Psychosen. Und viertens den Kindesmißbrauch, bei dem der Tod die Folge von schweren Mißhandlungen ist. In diesen Fällen ist oft der Vater am Tode beteiligt. Welches ist der häufigste Fall? Der häufigste und für die meisten vielleicht auch unverständlichste Fall bei Tötungen direkt nach der Geburt ist der der negierten Schwangerschaft, der von zumeist sehr jungen unreifen Frauen begangen wird. In diesen Fällen gehen die Mütter neun Monate fest davon aus, nicht schwanger zu sein. Nach dem Motto: Was nicht sein darf, kann nicht sein? Ja, aber unbewußt. Auch das Umfeld merkt nicht, daß die Frau in anderen Umständen ist. Die Frauen werden von der Geburt dann völlig überrascht, halten die Wehen für eine Krankheit und das eigene Kind sogar für einen Tumor, der beseitigt werden muß. Sie erkennen nicht, daß sie einen Säugling in den Händen halten? Wie gesagt: in Einzelfällen. Es gibt aber auch Frauen, die ahnen, daß sie schwanger sind, es aber nicht wahrhaben wollen. Wir hatten beispielsweise eine Frau zu begutachten, die in kurzen Abständen zwei Neugeborene auf dem Dachboden sterben ließ, ohne daß es ihr Mann oder ihre Familie mitbekam. Die Frau hatte sich einst geschworen, mit ihrem damaligen Partner keine Kinder mehr zu bekommen, weil er auf das erste gemeinsame Baby völlig kalt und lieblos reagiert hatte. Die subjektive Auswegslosigkeit und irrationalen Zukunftsängste bezüglich des "Glücklichwerdens" der Kinder prägten ihr Erleben und Wollen vor und nach den Geburten. Hat sich die Frau anschließend der Polizei gestell t?Nein, aber einige Monate später verließ sie ihren Mann und zog mit einem Partner zusammen, mit dem sie dann eine glückliche Familie gründete. Erst sechs Jahre später wurden die beiden Leichen der Säuglinge eher zufällig entgedeckt. Auch wenn die Mutter nicht schuldunfähig handelte, erkannte das Gericht doch an, daß die Taten in extremen Konfliktsituationen begangen wurden, deren Wiederholung unwahrscheinlich ist. Es verurteilte die junge, übrigens durchaus attraktive und durchschnittlich intelligente Frau zu einer Bewährungsstrafe. Sind Kindstötungen in bestimmen sozialen Schichten häufiger zu verzeichnen? Nach unseren Erfahrungen gibt es da einen Zusammenhang. An der Universität Bonn wurden alle Kindstötungen zwischen den Jahren 1970 und 1993 ausgewertet. Danach wurde der erweiterte Selbstmord - also Fälle, in denen die Frauen ihre Kinder mit in den Freitod nehmen wollen - hauptsächlich von schwer depressiven oder psychotischen Frauen aus der Mittel- oder Oberklasse verübt. Kindesmißbrauch findet man hingegen in allen sozialen Schichten mit Ausnahme der Oberklasse. Die meisten Täter verfügen in diesen Fällen über einen eher niedrigen Bildungsgrad. Welcher Gruppe ist die Frankfurter Mutter zuzuordnen? Gibt es vergleichbare Fälle? Ich hatte auch einmal eine Mutter zu begutachten, die ihr Kleinkind verdursten ließ. Bei diesen Fällen handelt es sich in der Regel um Menschen mit Persönlichkeitsdefiziten. Ihnen fehlt es beispielsweise an Emphatiefähigkeit, Verantwortungsgefühl und Wertorientierung. Diese Defizite haben aber auf die Schuldfähigkeit keinen Einfluß. Kann man Kindstötungen als so etwas wie unvorhersehbare Tragödien bezeichnen? Nein. In den meisten Fällen gab es vor der Tragödie eindeutige Warnsignale, beispielsweise depressive Symptome, Selbstmordgedanken und ausgestrahlte Hoffnungslosigkeit. Aber nicht nur die Partner, Familienmitglieder oder Ärzte sind häufig unfähig, die Zeichen zu interpretieren. In einem ausgewerteten Fall hatte die Frau sogar die Polizei von ihren Selbstmordplänen unterrichtet. Passiert ist nichts. Wie könnte man eingreifen? Bei den unreifen Frauen, die ihre Schwangerschaft verbergen, dürfte es schwierig sein, vorbeugend tätig zu werden. Aber wenn Familienmitglieder und Ärzte, mehr auf solche Warnsignale achten würden, könnten einige Kinder gerettet werden. Bei Depressionen oder Psychosen müßte die Frau - zur Not auch gegen ihren Willen - im Krankenhaus psychiatrisch behandelt werden. Bei einem jungen, finanzschwachen und hoffnungslos wirkenden Paar müßten die Behörden früher eingreifen und in einigen Fällen strengere Maßnahmen, wie beispielsweise Kindesentzug, ergreifen.

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